Vom Anfang oder Ende der Zeit
Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis.
Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die Dichterin hat für ihre schmuckvolle und zugleich dichte Sprache einen Ort, ein Personal und eine Geschichte gefunden. Über knapp 230 Seiten schlingen sich Sätze wie lebendige, blühende Verse um ein zartes Erzählgerüst.
Sarah Kuratle hat eine reich geschmückte Sprachlaube erträumt, in deren Schatten sich eine Welt aus Bildern, Gerüchen und Empfindungen – intensiv aufgesogenen Sinneseindrücken – ausbreitet: der Hof im Nirgendwo, die Tante, die Backstube, das Brot, die Äpfel, das verwaiste Schloss, die zugelaufenen Kinder, der Nachbar, der unbeholfen, aber bestimmt in den Alltag der Protagonistin Greta stolpert, die Feder auf seinem Hut, die Liebe. Zu Jannis. Ihrer beider Liebe, die eine große und zugleich stets geschwisterliche ist. Der Topos unwissentlichen Inzests ist dabei mehr dunkle Farbe in einem aus der Zeit gefallenen Gemälde als handlungstreibende Umkreisung der Krisis.
Greta und Jannis haben als Kinder miteinander gespielt. Zwei Kinder allein zu zweit in einem verborgenen Winkel der Welt. Das hat etwas vom Anfang der Zeit und der Dinge. Brüderchen und Schwesterchen, Siegmund und Sieglinde, Isis und Osiris. Und tatsächlich ist Gretas und Jannis‘ Liebe Keimzelle eines ersehnten Lebens, einer Heimat, eine Herzkammer zweier Seelen, die sich immer schon verwandt sahen.
Doch Kuratle erzählt nicht das Märchen dieser Vereinigung, sie blickt auf Gretas Leben als Verstoßene. Wie Ödipus, wie Tristan und Isolde werden Greta und Jannis unschuldig schuldig. Er heiratet eine andere. Sie treffen sich trotzdem. Sie leiden. Lieben. Und sie leben, Greta zumindest, am Ende der Welt, das doch deren Anfang sein wollte. Die duftende Backstube der Tante ist ihr Asyl, sie teilt es sich mit anderen Kindern, die hier Aufnahme fanden und in der Erzählung somit Metaphern sind für einen Lebensort, der mehr wärmende Zuflucht ist als das Zuhause einer bruchlosen Biographie.
Wer als Mann Greta in diesem Leben am Rande ihrer Geschichte, am Rande der Zeit nahekommt, bleibt dennoch Gast. So ist auch Cornelio, der Gehörnte, der Nachbar, mehr Metapher oder Allegorie in einem Bild, das Greta alleine zeigt. Alleine in ihrem Unglück und doch geborgen. Heimliche Heldin dieser Welt ist Tante Severine, die Strenge, oder doch: die Bäuerin, die, ohne zu fragen, Bedürftige um sich schart und sie in der Wärme ihrer Küche aufnimmt. Es ist ein großes, melancholisches Lied, das Sarah Kuratle anstimmt, ein (nicht nur) aus der Zeit gefallenes und dabei zeitlos schönes.