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Heft 33

Erschienen in Heft 33, anlegen
Ressort: Rezensionen

Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen:
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch

rezensiert von Helge Streit

Nachrichten aus der letzten Zeit

Grimmelhausens Simplicius entzieht sich durch Spott den Zumutungen seiner Zeit.

Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen ist noch ein Kind, als seine Heimatstadt Gelnhausen im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges den kaiserlich-habsburgischen Truppen anheimfällt. Die Bewohner, allesamt Lutheraner, fliehen ins benachbarte Hanau, das von den Schweden gehalten wird. Und es ist immer noch das Kind Grimmelshausen, das beim Spiel vor den Toren der Stadt von einem Trupp kroatischer Reiter zu den Kaiserlichen verschleppt wird. In dem Krieg, der Grimmelshausen nun auf Jahre nicht mehr loslässt, wird er häufig die Seiten wechseln. Noch wird den Untertanen nicht abverlangt, Partei zu sein. Im Absolutismus bleibt alles Politische Sache des monarchischen Staates. Darüber braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen, es genügt, ihn hinzuhalten.

Auch Simplicius Simplicissimus, der Protagonist von Grimmelshausens berühmtestem Roman wird sich in diesem Krieg mal auf dieser, mal auf jener Seite schlagen und so unwichtig erscheint das, dass der Leser durchaus nicht immer mitbekommt, welche Seite es gerade ist. Wie auch der Krieg einfach da ist. Riesengroß und alles verschlingend, daran lässt der Autor keinen Zweifel. Aber es wird nicht nach Gründen gefragt. Er wird nicht erklärt. Nichts deutet auf sein Beginnen und keine Frage richtet sich an seine mögliche Dauer. Und auch nachdem Simplicius – hier wiederum dem Beispiel seines Schöpfers folgend – endgültig bei den Kaiserlichen untergekommen ist, fällt kein Wort von einem höheren Recht auf irgendeiner Seite. Der Krieg bleibt, was er ist: eine Barbarei. Der Triumph einer verkehrten Welt.

Wenn der Dreißigjährige Krieg auch ein Krieg um den rechten Glauben war, so bleiben Simplicius und sein Autor auch in Religionsdingen lange unentschieden. Als ihm ein Geistlicher vom wahren Glauben spricht, erwidert Simplicius, dass die Gegenseite nicht weniger überzeugt sei von der Richtigkeit ihrer Argumente. Wie sich also entscheiden? Und er kommt zum Schluss: „Es muss ohnumgänglich eine Religion recht haben, und die andern (…) unrecht; sollte ich mich nun zu einer ohne reiflichen Vorbedacht bekennen, so könnte ich ebensobald ein unrechte als die rechte erwischen, so mich hernach in Ewigkeit reuen würde; ich will lieber gar von der Straß bleiben, als nur irrlaufen.“

Ist das Spott, womit sich da einer den Zumutungen seiner Zeit zu entziehen sucht?

Spott in Religionsdingen treiben bei Grimmelshausen auch andere. Ein Trupp Reiter hat einige Bauern gefangen genommen. „Wenn du Gott und alle seine Heiligen verleugnen wilt, so werde ich dich laufen lassen, wohin du begehrest,“ wird einem der Bauern beschieden. Der schwört auch prompt Gott und allen Heiligen ab, um seine Haut zu retten. Woraufhin der Reiter dem Bauern eine Kugel gegen die Stirn verpasst, „welche aber so viel effektuiert, als wann sie an einen stählernen Berg gangen wäre; darauf zuckte er seine Plauten und sagte: „Holla, bist du der Haar? ich hab versprochen, dich laufen zu lassen, wohin du begehrest, siehe, so schicke ich dich nun ins höllische Reich, weil du nicht in Himmel wilt“, und spaltete ihm damit den Kopf bis auf die Zähn voneinander.“

Wie Simplicius wird auch Grimmelshausen schließlich zum Katholizismus wechseln. Aber die Utopie der Aussöhnung der Konfessionen bleibt lebendig, und als es Simplicius nach Ungarn verschlägt, kann er nicht umhin, das gottgefällige Leben der dort angesiedelten Wiedertäufer zu rühmen.

Das rechte Leben misst sich im Abstand zur christlichen Lehre. Die Idee von der organischen Entfaltung des Individuums zu den in ihm angelegten Zielen und Talenten gehört einer späteren Zeit an. Ihr ist hier der sprunghafte Wandel entgegengesetzt, in rascher Folge durchläuft Simplicius immer neue Rollen. Tor, Schalk und Possenreißer, erfolgreicher Fouragierer in der Figur des Jägers von Soest, Pilger und zuletzt Einsiedler, landfahrender Storger (Vagabund) und Quacksalber, Opernsänger, Besitzer eines Landguts und Familienvater und – eine der überraschendsten Volten des ganzen Buches – Beau Alman, der in Paris für Geld den Damen der besseren Gesellschaft seine Liebesdienste anbietet. Das alles und vieles mehr verkörpert Simplicius in einem Roman, der sich unter der Hand des Autors selbst beständig wandelt, der Pikaroroman und Satire, erbaulicher Traktat, Utopie, Chronik, Allegorie, Märchenspiel und vieles mehr ist.
Und Simplicius kommt weit herum in der Welt. In Moskau hilft er dem Zaren beim Herstellen von Schießpulver, in Korea, von dem gerade erste Nachrichten in Europa umgehen, lehrt er den König, wie er auch mit dem Rücken zur Zielscheibe gerichtet ins Schwarze trifft. Auf einer mit Hexensalbe bestrichenen Küchenbank fliegt er durch die Lüfte, und wer das nicht glaubt, soll bitteschön erklären, wie Simplicius sonst so schnell von Stift Hirschfeld nach Magdeburg kam. Sogar eine Robinsonade gibt es, nachdem es Simplicius nach einem Schiffbruch auf eine einsame Insel verschlägt, die er nicht mehr verlassen wird. Und wie Jules Vernes Professor Lidenbrock reist er zum Mittelpunkt der Erde. Ausgangspunkt der Reise ist aber kein Vulkan, sondern der im Schwarzwald gelegene Mummelsee. Denn nicht nur zum Festnageln der Meere ans Festland dienen die Seen, sondern sie führen als Wasserstraßen auch in die tiefsten Tiefen. Entgegen der Erwartung Simplicius‘, dort Pygmäen vorzufinden, die im Laufrad umlaufen und solcherart die Erde in Drehung versetzen, trifft er auf ein Volk, das sich von Korallen ernährt und Perlen wie rohe Eier schlürft. Es spricht eine Sprache, die, wiewohl von jeder anderen unterschieden, dennoch von allen verstanden wird. Und da immer auf einen der ums Erdenrund verstreuten Seen die Sonne fällt, fehlt es nie an Licht und Wärme. Die Mitglieder dieses Volkes sind begabt mit Vernunft, aber ohne die Last einer unsterblichen Seele. Frei und gleich verbringen sie ihre Tage, kennen weder Krankheit, Schmerz noch Krieg.

Grimmelshausen hat weniger Glück als Simplicius, den sein Schöpfer auf eine einsame Insel rettet, und der Krieg wird ihn im Alter erneut einholen. Da nützt es auch nichts, sich im abgelegenen Rechen am Oberrhein zu verstecken, wo Grimmelshausen als Schultheiß Verwaltungsdienst verrichtet, nebenbei eine Gastwirtschaft betreibt und in den Geschichten, die er sich ausdenkt, weiter in der Welt herumkommt als irgendein anderer in seiner Zeit. Mit knapp 55 Jahren meldet er sich erneut zum Militärdienst, aber kurz bevor es wieder losgeht, erlöst ihn der Tod im Kreis der Familie. Zurück bleibt Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch/ Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines selzamen Vaganten/ genant Melchior Sternfels von Fuchshaim/ wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen/ was er darinn gesehen/ gelernet/ erfahren und außgestanden/ auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig/ und männiglich nutzlich zu lesen.

 

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