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Heft 30

Erschienen in Heft 30, wälzen
Ressort: Rezensionen

Boris Schumatsky:
Die Trotzigen

rezensiert von Herwig Höller

Crashkurs in russischer Landeskunde

Die Deutsche Anna Spiller engagiert sich für die Moskauer NGO Memorial, ihr zeitweiliger russischer Freund Sascha Potjomkin versucht ein deutsches Visum zu ergattern, Denis strebt eine Karriere als Journalist beim liberalen Radiosender Echo Moskaus an. Wir schreiben den August 1991, im zweiten Teil des Romans Die Trotzigen auch den Oktober 1993 und in Russland wird große Geschichte geschrieben.
Der 1965 in Moskau geborene Boris Schumatsky lässt in seinem aktuellen Prosawerk Schlüsselmomente des neuen russischen Staats aufleben und er feiert die Völkerfreundschaft zwischen Deutschland und Russland, die kurz nach der deutschen Wiedervereinigung nicht nur auf offizieller Ebene einen Höhepunkt erreicht hat. Auch zwischen seinen Romanfiguren aus beiden Ländern knistert es, sie durchleben – so wirbt der Verlagstext – eine „sehr moderne Liebesgeschichte“. Schumatsky erzählt sie mit vielen Rückblenden, die dem Leser bisweilen große Aufmerksamkeit abverlangen. Slawistin Anna lebt in Moskau und liebt zunächst den Übersetzer Sascha, dann ein wenig Ljoschka und sie versucht schließlich 1.000 Dollar für eine Abtreibung zu organisieren, zu der es in Ermangelung einer Schwangerschaft jedoch nicht kommt. Sascha fürchtet seine Rekrutierung in die sowjetische Armee und überlegt vorübergehend, seine deutsche Freundin zur leichteren Erlangung eines deutschen Visums zu ehelichen. Doch Anna macht mit ihm Schluss und während des Putschversuchs kommunistischer Hardliner im August 1991 wird Sascha von einer Prostituierten betrogen. Später fälscht er in Deutschland seinen russischen Personalausweis, um als jüdischer Immigrant durchgehen zu können. Aber auch das scheitert. Saschas Bekannter Denis kann als angehender Radiojournalist zwar bei Studentinnen punkten, doch auch ihn zieht es nach Deutschland. Dort lässt er sich aus Visagründen auf eine vermeintliche Schwulenhochzeit in Berlin ein, die sich jedoch als Adoptionszeremonie herausstellt.
Im Unterschied zur selbstbewussten Mitzwanzigerin aus Deutschland, die mit spektakulären Fotos von umkämpften Moskauer Schauplätzen in der Berliner Kunstszene reüssieren möchte, wissen ihre russischen Altersgenossen im Roman nicht so recht, was sie wollen. Sie wirken wie Statisten, die keinen Einfluss auf die große Geschichte nehmen wollen und können. Schumatsky porträtiert in Die Trotzigen sein damaliges Milieu, das Anfang der Neunziger aufgrund internationaler Kontakte und damit verbundener Verdienstmöglichkeiten in Russland als privilegiert gelten konnte.
Abgesehen von sporadischen Abweichungen, etwa die falsche Datierung einer Jean-Tinguely-Ausstellung oder eine inkorrekte Beschreibung der Moskauer U-Bahn-Linie Nummer 6, bleibt er sehr nah an der Wirklichkeit und liefert nahezu einen Crashkurs in russischer Landeskunde der damaligen Zeit. Seine Romanfiguren sind mit berühmten Persönlichkeiten wie dem Kunsttheoretiker Boris Groys, dem Aktionskünstler Awdej Ter-Oganjan oder dem Radiomacher Aleksej Wenediktow „befreundet“, die Schumatsky teils äußerst authentisch darstellt. An manchen Stellen versucht der Autor zudem, russischen Jargon wortwörtlich ins Deutsche zu übertragen.
Bisweilen ist man aufgrund dieses dokumentarischen Charakters geneigt, die zentralen Protagonisten des Texts gar auf historischen Fotografien zu suchen, etwa die fiktive Slawistin aus Deutschland auf Bildern, die den Sturz der Moskauer Feliks-Dserschinski-Statue am 22. August 1991 zeigen. Im Roman klettert Anna Spiller kurz zuvor auf das verhasste Denkmal des ersten sowjetischen Geheimpolizisten.
Manche Aspekte lassen sich ausschließlich aus einer russischen Perspektive verstehen – dies gilt nicht nur für manche sprachliche Experimente. „Geschichte ist Politik, die in die Vergangenheit gewendet ist“, wird der sowjetische Historiker Michail Pokrowski häufig zitiert, und in Russland, so vermerkte kürzlich der Moskauer Zeitungskolumnist Maksim Trudoljubow, seien politische Diskussionen durch Positionierungen zu historischen Ereignissen abgelöst worden.
Schumatsky, der seit Mitte der Neunziger-Jahre in Deutschland lebt und auf Deutsch publiziert, lässt in Die Trotzigen an seiner wohlwollenden Einstellung zur russischen Demokratiebewegung keinen Zweifel. Er beteiligt sich somit auch an jenem historischen Stellungskrieg von Russlands Liberalen, die zuletzt gerne an positive Aspekte der krisengeschüttelten Neunziger-Jahre erinnerten. Auf der Gegenseite stehen Anhänger des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die ein zunehmend autoritäres Regime unter anderem mit vernichtender Kritik an diesem Jahrzehnt zu legitimieren versuchen. Putin, mit dem sich Schumatsky als Publizist kritisch auseinandersetzt, kommt übrigens auch im Roman vor – in einer kurzen Leipziger Episode und nicht als Sympathieträger.

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