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Heft 29

Erschienen in Heft 29, verspielt
Ressort: Rezensionen

Benedikt Kramer et al.:
my degeneration: the very best of WHO IS WHO

rezensiert von Sarah Fötschl

It‘s hard to be who

Im Band my degeneration wird gelistet, gesamplet und ge-resamplet

„Automechaniker heißt jetzt Mechatroniker“ – nach diesem Schema schenken uns Kai Pohl, Benedikt Kramer und Clemens Schittko et al. ein Buch über Poesie im pöhsen, pöhsen Kapitalismuszeitalter. Ein Buch voller Listen, ein Telefonbuch der Semantik des Kapitalismus und seiner Verwandten. Suchmaschinenästhetik, Dada-Montage und mehr oder weniger verzweifeltes Herumspielen mit der Sinnmaschine Internet, Dada, Blabla und Gaga. Kai Pohl spricht in seinem Vorwort von „semantischem Kapitalismus“. Ich meine, dass wir es mit der „Semantik des Kapitalismus“ zu tun haben. „Semantischer Kapitalismus“ wäre ein anderes Phänomen. Aber diese Ansicht stammt nur von mir.

Die Feststellung „Automechaniker heißt jetzt Mechatroniker“ stammt auch von mir. Und dieser Satz stimmt mich weder verzweifelt noch nostalgisch. Anders bei Pohl, Kramer und Schittko. Sie samplen Linien wie D2 heißt jetzt Vodafone, VIAG Interkom heißt jetzt O2, Ruhrgas heißt jetzt E.ON, BKK Holzmann heißt jetzt Salus BKK, Leica-Mechanik heißt jetzt Polymeca, Neusiedler heißt jetzt Mondi Business Paper, Post heißt jetzt Deutsche Post World Net, Deutsche Aerospace heißt jetzt EADS Militärflugzeuge, Hankison International heißt jetzt SPX Air Treatment, Schoellerbank Inflationsfonds Plus heißt jetzt Realzins Plus, Aldi heißt jetzt Hofer, Hertie heißt jetzt Karstadt, Preussag heißt jetzt TUI, Pillsbury heißt jetzt General Mills, Firebird heißt jetzt Firefox, Jaguar heißt jetzt Red Bull, Roxio heißt jetzt Napster, Napster heißt jetzt Snocap, Virgin heißt jetzt Avalon, Geigy heißt jetzt Novartis, Raider heißt jetzt Twix, Yahoo heißt jetzt Yisou – zumindest in China.

oder

Gleichstellung heißt jetzt Gender Mainstreaming, Mundpropaganda heißt jetzt Viral Marketing, Rendezvous heißt jetzt OpenTalk, Reisebegleiter heißt jetzt Care&Wellness Manager, Seilspringen heißt jetzt Rope Skipping, das Science Center heißt jetzt Odysseum, Öffentlichkeitsarbeit heißt jetzt Kommunikation, Erziehungsurlaub heißt jetzt Elternzeit, Haushalt heißt jetzt Bedarfsgemeinschaft, das Amt heißt jetzt Agentur, Saufpark heißt jetzt Biermassaker, Krieg heißt jetzt Friedenssicherung, Angriffskrieg heißt jetzt Verteidigung vitaler Interessen, Destroy heißt jetzt Erase, das Wesen der Dinge verstehen heißt jetzt Erkennen der Aura.

und enden nach gefühlten fünfhundert Seiten mit

ALLES BLEIBT WIE ES IST – NUR DER NAME ÄNDERT SICH: Kiepert heißt jetzt Thalia, Head Hunter heißt jetzt Kopfgeldjäger; es ist ein altes Elend. Dimitroff heißt jetzt Danziger.

Mehrere Versionen des Sinnmaschinentextes WHO IS WHO erscheinen in diesem Buch, Kai Pohls Versionen aus den Jahren 2004, 2008, 2011 und Benedikt Kramers Version aus 2012 sowie Clemens Schittkos Adaption WHO IS WHO/ IS WHO OR WHAT aus dem Jahr 2010. Die Herren zeigen kollektive Textproduktion und Sampling, weitere Autoren, die sich nach ersten Veröffentlichungen von WHO IS WHO mit weiteren Texten auf diesen beziehen, erscheinen ebenfalls im Buch: Christoph Bruckner, Robert Mießner, Lars-Arvid Brischke sowie der Bund katholischer Dichter mit ADVENT STATT EVENT (2010). Seltsamerweise hat sich keine Autorin an den Konvoluten beteiligt. Hm, komisch. Ist das kapitalistische Dada-google-www-Zeitalter wieder so technisch und so frauenlos?

Mit „flarf poetry“ hat diese Sammlung jedoch eher nichts zu tun, Pohl erwähnt diese amerikanische Strömung in seinem Intro zum Buch ebenfalls. Im Gegensatz zu „flarf“ wird in Pohls et al. Texten Sinn und sozialkritische Bedeutung kreiert, für meinen Geschmack sehr oft zu gewollt. Und so ist auch die Verzweiflung, die aufgrund gefühlter Blockade und Stagnation aus diesen Sinnmaschinenmomenten hervorgeht, eine gewollte, eine ausgewählte. Die Menge an emotional meist nutzlosen Informationen, die als Namedropping auf die Leser eindrücken, betäubt konsequent in stilistischer Vollendung.
Als Zeitgenosse und -genossin sollte man dieses Buch unbedingt lesen.
Und dann hassen.

Rezensionen

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Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
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Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

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Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

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Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
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Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

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2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

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Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
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Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

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Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

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Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

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Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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