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Heft 28

Erschienen in Heft 28, wie meinen?
Ressort: Rezensionen

Johannes Gelich:
Das T-Shirt meiner Frau. Stories

rezensiert von Bettina Balaka

Eisbergstorys

Johannes Gelichs Kurzgeschichten wirken als Text und Subtext gleichermaßen

Gemäß dem von Ernest Hemingway entwickelten Eisbergmodell sollte eine gute Kurzgeschichte wie ein Eisberg nur 8 % ihrer Masse an der Oberfläche zeigen, die restlichen 92 % aber darunter als Subtext wirken. Wenn der Autor weiß, wie sein Eisberg unterhalb der Wasserlinie des Ausgesprochenen aussieht, kann die tiefere Bedeutung der Geschichte implizit hindurchscheinen. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gibt es nicht mehr viele, die das Eisbergmodell anwenden, umso erfreulicher ist es, wenn es jemand so meisterhaft tut wie Johannes Gelich in seinen „Stories“ und damit beweist, dass die Kurzgeschichte weit mehr ist als der Text eines Romanciers, dem der Atem ausgegangen ist.

Ein Paar fährt auf einem Schiff „von der Donaumündung in den Sulina-Kanal“. Während Eva schläft, überlegt Jeck, „ob er es ihr später sagen solle.“ Was, erfahren wir nicht. Will er sich trennen? Auf einer Reise? In Sulina buchen sie eine Kanutour ins Donaudelta bei einem Rumänen, der sich James nennt. Hier in der Wildnis, zwischen Pelikanen, Fröschen und Schlingpflanzen schaukelt sich aus dem Nichts ein Streit auf, der in dem Satz gipfelt, der auch den Titel der Geschichte bildet: „Ich will nicht nett sein!“ Und wieder überlegt Jeck, „ob er es ihr jetzt sagen sollte, (…) wie um das frische Ölgemälde, das sie gerade im Begriff waren zu malen, mit einem Kratzer zu verunstalten“. Ein „Kratzer“ klingt nicht nach einer Trennung, also was könnte es sein? Es ist der übercharmante James, der Jeck schließlich zur Weißglut treibt. Er stürzt sich auf ihn und bringt dabei das Boot zum Kentern. „Als er wieder an die Oberfläche gelangte, erblickte er ihre Köpfe, die aus dem von Seerosen bedeckten Wasser wie die Köpfchen von unbekannten Tieren ragten.“ James und Eva schauen Jeck verdattert an, als würden sie darauf warten, „dass er etwas sagen würde, wenigstens irgendetwas sagen würde“. Das Unausgesprochene wirkt – schöner hätte man die Eisbergtheorie kaum demonstrieren können.

Während die einen zu wenig sagen, reden die anderen zu viel. In Potty textet Herr Gilbert gnadenlos eine Immobilienmaklerin mit der Geschichte vom Töpfchengehen seines kleinen Sohnes zu, während diese gerade isst. Die Schilderung des Kinderklo-Ungetüms „Potty“, das beim Einfallen jeden Würstchens eine Fanfare ausstößt und den gequälten Vater im Wohnzimmer beim Fernsehen stört, gehört zu den komödiantischen Highlights des Buches. Doch auch hier schimmert durch, dass „Potty“ möglicherweise nur das Symbol für etwas anderes ist, das im Argen liegt, und dass Herr Gilbert nicht nur auf der Suche nach einer neuen Wohnung sein könnte.

Wohnungen sind oft der Schauplatz, und man darf sie getrost auch als Metapher für das Ich ansehen: jenen Ort, an dem man grundsätzlich alleine ist, an den Stimmen und Geräusche dringen, die nicht immer einzuordnen sind, und durch dessen Fenster-Augen einen auch ein herabstürzender Schatten streifen kann, der auf eine Tragödie in einer anderen Wohnung hinweist. Die Geschichten werden gerne über die Bande gespielt: Es wird erzählt, wie jemandem etwas erzählt wird, oder gar, wie dieser es wiederum weitererzählt. Durch diesen Kunstgriff wird einerseits die nötige Distanz eingezogen, um auch politisch Inkorrektes im Licht der Ironie erscheinen zu lassen, und andererseits das Wirken von Geschichten als Meme vorgeführt. Es geht um die Tücken der Kommunikation, etwa wenn einer eine E-Mail von einer Magda bekommt, aber gleich zwei Verflossene dieses Namens unangenehm in Erinnerung hat; wenn ein anderer versucht, seinen Chef durch Fachwissen in der Schmetterlingskunde, dessen Steckenpferd, zu beeindrucken, und dabei den Karren wortreich gegen die Wand fährt; oder wenn ein Dritter die Gelegenheit, der hübschen Nachbarin näherzukommen, tatenlos verstreichen lässt, um am Ende mit dem Bild eines nackten Mädchens auf seinem Monitor allein zu bleiben. Dann wieder gibt es unerwartetes Gelingen: In Was ist denn? versucht ein Vater seinem pubertierenden Sohn näherzukommen, indem er ihm Dinge erzählt, die wohl jeden Jugendlichen vor Peinlichkeit sterben lassen würden – und doch gelingt es ihm, dem Jungen einen einzigen Satz herauszulocken, der zeigt, dass eine Annäherung stattgefunden hat.

Gelichs Storys sind vielschichtig, unterhaltsam, sorgfältig konstruiert und in einer präzisen Sprache gehalten, die ohne großen Bombast auskommt. Und sie können das, was gute Literatur manchmal kann: In der Ich-Wohnung des Lesers das eine oder andere Fenster öffnen, das bis dahin unbemerkt war.

Rezensionen

Buch

Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

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Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

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Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
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Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

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Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

Buch

Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

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Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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