Die dritte Hälfte der Torte
Wert und Mehrwert in Axel Helbigs Dichtergesprächen
Zur Kultur des Sekundärtextes über neuere deutschsprachige Literatur lassen sich auf ersten Blick zwei kontroversielle Extrempositionen festmachen. Während eine Seite die Analyse des Textes und seiner Entstehungsbedingungen nicht nur als begleitende Aufarbeitung, sondern geradezu als programmatischen Inhalt der Literatur selbst betrachtet, werden auf der anderen Seite, vor allem in Bezug auf Lyrik, immer wieder gewichtige Einwände laut, die zunächst auf eine gänzliche Diskursverweigerung hinauszulaufen scheinen. „Wer über Poesie redet und wer solchen Reden zuhört, ist immer schon auf der Flucht vor ihr“, schreibt Hans Magnus Enzensberger schon 1962, und Claudia Gabler fragt 2010 in der Dresdener Literaturzeitschrift Ostragehege: „Und müsste also doch ein Text über ein Gedicht nicht immer wieder ein Gedicht sein?“
Ohne eine der beiden Positionen ganz zu verwerfen, lässt sich der ergiebigste Weg (der viabelste, um mit Ernst von Glasersfeld zu sprechen) wohl in der Mitte finden: Gerade dort, wo gelegentliche Zweifel an der Legitimität des Sekundärtextes darüber wachen, dass das Sprechen über Literatur seine Zuständigkeitsgrenzen wahrt und seinen Gegenstand nicht zu verdrängen droht, entstehen oft die erhellendsten Ausführungen zur Genese und Bedeutung literarischer Texte. Dies gilt in besonderer Weise für die erwähnte Zeitschrift Ostragehege, die Heft für Heft ausführliche Interviews ihres Herausgebers Axel Helbig mit Schreibenden bringt und darüber hinaus mit der Rubrik Lagebesprechung den poetologischen Dialog durch Dritte fördert. Über die Jahre gesammelt und von Helbig editiert, ergeben diese Materialien bemerkenswerte Bücher.
Der hier vorzustellende Band versammelt (gleich wie die im Jahr 2007 und 2023 erschienene gleichnamige Bände 1 und 3) Gespräche, die Helbig mit so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Marcel Beyer, Ulrike Draesner (ihrem Interview ist der Titel dieser Rezension entnommen), Elke Erb, Norbert Gstrein, Wulf Kirsten, Günter Kunert, Christian Lehnert, Brigitte Oleschinski, Ilma Rakusa, Raoul Schrott, Arnold Stadler und Jan Wagner geführt hat. Ergänzt werden sie durch Interviews mit Verlegern und Bildenden Künstlern sowie durch Befragungen des Interviewers selbst, etwa in dem von Eyk Henze gestalteten Gespräch über Gespräche. Insgesamt 35 Interviews sind es, die in profunder Weise – so liest Helbig grundsätzlich alle Bücher seiner Interviewpartnerinnen und -partner vor dem Gespräch noch einmal – die Schreib- und Lebenswelten der Befragten detailliert ausleuchten. Durch kluge, einfühlsame Fragen gelingt es Helbig, Resonanzräume für den „eigenen Ton“ seines Gegenübers zu öffnen, die verzweigten und vernetzten Herschreibungslinien des jeweiligen literarischen Werkes aufzuzeigen und dessen poetischen Kern ein entscheidendes Stück weit freizulegen.
Im Ganzen betrachtet entfalten die vorliegenden Bände einen Mehrwert, der über den Wert der einzelnen Interviews noch hinausgeht. Sie vermitteln – gewissermaßen als dritte Hälfte der Torte neben den Fragen und Antworten – eine reflektierte Grundhaltung respektvoller Zuhörer- und Leserschaft und eine abseits des Wissenschaftlichen seltene Bereitschaft zur punktgenauen Auseinandersetzung mit differenzierten Inhalten. Nicht zuletzt wecken die beiden Bände auch ein grundsätzliches Interesse am Interview als literarischem Genre – einer Textgattung, die hervorragend dazu geeignet ist, als „essayistisches Gespräch“ Literatur in ihren vielschichtigen Zusammenhängen auszuloten und die Lebendigkeit ihrer Entwicklungen wahrzunehmen.