Mit der Wucht einer Turbinenhalle
Zu Ute Eisingers Gedichtband Dichte Kerne
Bei Baudelaire war es (im Eröffnungsgedicht der Blumen des Bösen) die Langeweile, über die der Bund mit dem Leser geschlossen werden sollte. Sie bezeichnet da die Haltung des Dandys und gleichsam – paradox? – die Bedrohung der Poesie, der Kunst überhaupt. Rund eineinhalb Jahrhunderte später ist die Poesie gefährdet genug, Ute Eisinger braucht nicht zu kokettieren, ihr Ernst – vom ersten Vers an – ist schlicht und doch auch fordernd, die Imperative sammeln sich schon im Eingangsstück. „Da steht’s – lies hin“ heißt es, noch bekannt aus der geläufigen Forderung, dass sehen möge, wer Augen hat. Mit dem nächsten Imperativ ist man dann aber schon mittendrin in der Welt dieser Gedichte: „Lern/was/ Steinerhörtes/spricht“. Mit den Augen allein wird man diesem Schauen – „von einem Augen-/schüler komponiert“ – nicht beikommen. Wer ein Gedicht nicht harmlos will, ist ins Recht gesetzt, darf verwundert sein: „Dass etwas/aus der Zeit Gefallenes/an dich Bewunderer/gerichtet ist“.
Es sind Gedichte, sehr unterschiedlich in Länge, Rhythmus und Ton. Gemeinsam ist allen, dass sie sämtlich von Skulpturen ausgehen. Sie schauen, horchen, fühlen; sie denken, zielen mitunter auch auf diese, ihre Vorlagen hin. Lyrik also, über, mit und auf Skulpturen. Etwas aus der Zeit Gefallenes: Schnell sagt man, das ist das Gedicht, das ist die Skulptur. Aber was für Worte findet die Dichterin (die neben ihrem Band Bogen auch Übersetzungen, etwa von Ilya Kutik und Hart Crane, vorgelegt hat) gegen solch verkürzendes, vorschnelles Immerschon-Wissen! Da gibt es Gardefiguren: „Gesichtszüge fehlend/zu Ehren ihrer Gültigkeit“; da gibt es einen Stein und seine „ungehobelten Stellen […] erinnern, wie’s innen aussieht in der Ewigkeit“; eine Venus ist „zur Steinzeitfaust rück-/geballtes Kulturgut“ und wir sehen „ein Rudel Strumpfhosen das/über neblichte Wiesen tanzt“. Der Wort- und Bildfindungen sind zahllose, nie sind sie selbstverliebt, immer liebend. Und die poetischen Einsichten treffen einen nicht selten „mit der Wucht einer Turbinenhalle“ – wer hätte nach dem Lesen dieses Verses nicht eine andere Vorstellung von Wucht als zuvor?
Woher aber kommen diese Funde? Nicht zuletzt wohl aus Bemühen und Haltung. „In dem Spiel/warst du Kaiser“ heißt es einmal, und die Dichtung (wie die Kunst überhaupt) wird ja oft als Spiel gesehen. Sie ist es mit vollem Recht, der Mensch ist kaum je schöner, als wenn er spielt. Gleichzeitig sind aber Ute Eisingers Texten durchaus ethische Fragen eingeschrieben und sie behaupten ihren Platz ohne höflich-vorsichtiges Fragezeichen.
So begegnen wir in einem Gedicht einer „Puppe“ mit „mehreren Brüsten“, die sind „vielfach gestapelter Männertraum“; die so Ausgestattete „liegt gut in der Hand“, ist aber „Liebesrakete/ Granate“ wie schon die „Schamlose“ eines anderen Gedichts, die auch als „Handgranate“ bezeichnet wird, „als hätte sie Platz/in einer Faust“. Weiblichkeitsbilder sind das für eine halbe Ewigkeit. Leicht kann aus Beschreibung, sind wir erinnert, die Zuschreibung eines fremden Willens werden. Da ist zu Vorsicht aufgerufen, wer Objekte schafft. Haltung ist alles heißt denn auch ein Nike-Gedicht.
Die Vorsicht, die hier gemeint ist, sei aber keine sich duckende, immer schon gehorchende; eher ihr Gegenteil wird beschworen, nämlich Vorsicht vor Bildern von der Welt, die uns nicht ohne manipulierende Hintergedanken als scheinbar bekömmlich vorgesetzt werden. „Als würd vor die Hunde gehen,/ wer von der Leine ist,/als die man ihm den alles gewährenden/Lauf der Welt,/ in einen Kasten gesperrt,/verkauft hat“, heißt es im Gedicht Verweigert die Zeit! Und weiter: „Währung/Zeit, damit ja keiner/auf eigene Faust/aufmerksam bleibe und/wahrnimmt, was ist.“
Bemühen und Haltung also: Wie beides im äußersten Fall aussehen kann, macht das Gedicht Giordano erfahrbar. Mit den Eingangsversen – „Der Pranger,/an dem einer steht“ – denkt man schon an Giordano Bruno, den Philosophen und Dichter, der auch Priester war und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde. So endet das Mahnmal für ihn und für die seiner Art:
„Dulder von allem,
sich verjüngend verbreitet, unbeirrbar gefasst, gelassen worden,
was er entfachte:
für etwas
brennen.“
Ute Eisingers Gedichte lassen die Gewalt, die am Werk ist, nicht vergessen; sie führen gleichzeitig und eben deswegen ihre Überwindung vor. Ihre Gabe an uns: was wir als Betrachter dieser Skulpturen, als Erfahrer der Welt, im günstigsten Fall sein könnten.