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Heft 25

Erschienen in Heft 25, schön blöd
Ressort: Rezensionen

Birgit Schwaner:
Polyphems Garten. Erzählung

rezensiert von Lisa Spalt

Verharren vor dem Wysiwyg

In Polyphems Reich soll die Welt des Buches ausgelöscht werden

Seltsam verstörend trifft die Künstlichkeit der Welt, von der in Polyphems Garten erzählt wird und die doch so negativ dargestellt ist, auf die fröhliche Künstlichkeit der Erzählung, als sei sie darin irgendwie angelegt – angesichts dessen, dass hier das Regime des Polyphem die Welt des Buches auslöschen will, ein bedrohlicher Gedanke. Das „Poein“, das „Machen“ der Dichtung, scheint mit dem Erzeugen, das die Welt dieser Polyphem Corporation so sehr beherrscht, verwandt (ein schönes Symbol, dass die geheime Bibliothek des Polyphem gerade unterhalb seines Herrschaftsbereichs liegt, jenen sozusagen fundiert). Und umso deutlicher wird diese doppelte Besetzung des Herstellens, wenn im beschriebenen Polyphem’schen Reich die Waren gerade wie früher die Texte ausgedruckt werden. An die Stelle aber des nunmehr verbotenen Lesens ist das stundenlange Verharren vor dem „Wysiwyg“ getreten, mit dem die so genannten „Meisten“ zum Konsumieren, zum Ordern von Waren gebracht werden. Ein Zeitalter der Mündlichkeit, das man vor langer Zeit verlassen, ist wiedererschaffen, ein Zeitalter ohne Geschichte, ein Leben aber auch unter totaler Beobachtung. Wir erkennen unschwer eine überspitzte Beschreibung gegenwärtiger Entwicklungen in der Darstellung des Polyphem’schen Überwachungsstaates. Ja, Schwaner wendet hier einen interessant distanzierenden Trick an, indem sie, was wir eigentlich schon kennen, als Zukunft inszeniert und so die Ungeheuerlichkeit der Gegenwart erst sichtbar macht. Sie erzählt von spionierenden Drohnen, Mauern zwischen Arm und Reich, implantierten Chips und Tieren, die infolge von chemischen Unfällen ausgestorben sind. Und sie setzt diese real existierenden Versatzstücke der Dystopie wieder in Bezug zum Machen, gerade indem sie sie als „Nur-Geschichte“ darstellt, als durch Erfindung erzeugte, als Poesie. Überhaupt kommt dem Machen über das Schreiben und kreierende Lesen in Polyphems Reich ganz revolutionäre Bedeutung zu: „Alles neu, weil alles vergessen“, heißt es gegen Ende des Texts. Es ist das Erinnern, das mit den Kulturtechniken der Schrift und des Lesens verloren gegangen ist. Hier aber liegt auch die Achillesferse des Systems – es ist eben auch das Erinnern, das Wissen, ergo die Bibliothek, die der Macht gefährlich werden kann. Soeben hat der Ingenieur Ping noch für Polyphem „Kreatorköpfe“ produziert.

Sie sollen Kunst hervorbringen und den Despoten Polyphem – so versteht jener die Sache – zum Künstler machen. Doch Ping und Nina, Vorleserin aus der Zeit des Übergangs zur totalen Mündlichkeit, sind bereits dabei, in die unterirdische Bibliothek, die sich Polyphem eingerichtet hat, einzubrechen, um die Menschheit mithilfe von Büchern, mithilfe von Wissen, wachzurütteln. Man will die „Wysiwigs“ kapern, um die alten Autoren und Autorinnen über dieses Medium bekannt zu machen, um der Welt ihre Reflexionsfähigkeit und damit ihre Handlungsfähigkeit wiederzugeben. Noch einmal kehrt der Text zurück zur Reflexion des „Poein“, des Machens. Er hat diese Welt der Polyphem Corporation produziert, ihre Gesetze und Gegenstände – gewissermaßen die Wörter und die Grammatik einer Zukunft – bereitgestellt. Nun muss es ans Handeln, an die Handlung des Buches gehen. Ab hier müssen Sie selbst weiterlesen.

Rezensionen

Buch

Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

Buch

Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

Buch

Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
rezensiert von Lisa Höllebauer

Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

Buch

Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

Buch

Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

Buch

Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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