Zuversicht, weil die Welt den Verstand verloren hat
Auf dem Tisch vor mir liegen die Lebensaufzeichnungen von Astrid Lindgren. Die Menschheit hat den Verstand verloren. Damals schon? Auch, wenn alles vergeht. Die große Kunst bleibt. Und die Königin der Literatur ist für mich diese große Erzählerin. Die Erfinderin von Pippi, Madita und Karlsson. Dennoch gibt es eine Geschichte, die mein junges Weltbild für immer verändert hat: Die Brüder Löwenherz. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, dann hat mir meine Mutter die Geschichte zum ersten Mal vorgelesen. Als ich endlich selbst lesen konnte, habe ich sie selbst wieder gelesen. Als meine Frau zum ersten Mal schwanger war, habe ich sie ihr vorgelesen. Den Kindern habe ich sie dann auch vorgelesen und ich werde sie auch noch den Enkelkindern vorlesen. So zumindest in meiner Vorstellung. Lindgren beginnt die Kindergeschichte mit einem Sprung in den Tod. Der neunjährige Karl liegt schwer lungenkrank im Bett und weiß, dass er bald sterben wird, obwohl es ihm keiner sagen möchte. Er bewundert seinen 13-jährigen Bruder Jonathan, der schlau, mutig, schön und überall beliebt ist. Jonathan versucht, seinem geliebten kleinen „Krümel“ die Angst vor dem Tod zu nehmen, indem er ihm vom Land Nangijala erzählt. Ein Land, das nach dem Tod wartet und in dem die Heckenrosen blühen, als kriegten sie es bezahlt. Dort werde Krümel auch völlig gesund sein und den ganzen Tag Abenteuer erleben. Jonathan stürzt sich für seinen Bruder in den Tod. Aber nicht auf sinnlose, pseudo-märtyrerhafte Weise, sondern ganz pragmatisch. Er will ihn retten und verletzt sich dabei tödlich. Eines Abends hat Karl beim Einschlafen das Gefühl, dass er in dieser Nacht sterben wird. Tatsächlich findet er sich kurz darauf gesund bei Jonathan in Nangijala wieder. Die Lehrerin hatte Jonathan im Nachruf Löwenherz genannt. Genialerweise, stellt Karl fest, heißen sie hier nun beide so. Nomen est omen. Das wird nämlich auch nötig sein. Was folgt ist kein Himmelreich, sondern eine Welt, in der bald das Grauen regiert. Die beiden Brüder halten dagegen, weil es sich lohnt, weil uns ja auch nichts anderes übrigbleibt, und weil wir die Zuversicht brauchen, gerade weil die Welt wieder den Verstand verloren hat. „Ich sehe das Licht!“