Alltäglichkeit vs Das letzte Einhorn
Mit etwa 8 Jahren konnte ich weder fliegen noch zaubern und kam langsam zum Schluss, dass ich wohl keine Superkräfte mehr entwickeln würde. Das war sehr enttäuschend, denn aus Geschichten, die mir vorgelesen und erzählt worden waren, wusste ich, dass Mädchen nur zu Hauptfiguren und damit zu Heldinnen werden konnten, wenn sie übersinnliche Kräfte hatten. Ich würde also keine Heldin werden. Keine Drachen besiegen, keine Zaubertränke brauen. Kein aufregendes Leben vor mir haben.
Außer ich würde meine Eltern davon überzeugen können, mich in ein Internat zu geben. Dort – so hatte mir meine Schwester erzählt, die Enid Blyton gelesen hatte – konnte man als Mädchen auch Abenteuer erleben. Aber meine Eltern sahen keine Veranlassung, weil ich es zuhause doch so gut hatte. Das war gerade das Problem, es ging mir gut. Ich kannte bis dahin nur kleine alltägliche Probleme. Über so etwas wollte doch niemand schreiben oder lesen. In Büchern wurden nur die Töchter von Piraten oder Räuberhauptmännern zu Hauptfiguren, im echten Leben in den 1970ern vereinzelt Sportlerinnen oder sehr selten Politikerinnen von der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Dann gab mir meine Schwester das Buch Wir Kinder aus Bullerbü. Dort erzählte eine Lisa – ein Mädchen in meinem Alter – über ihr Leben in dem kleinen Dorf Bullerbü. Und ihr Leben war fast so ereignislos wie meines. Aber sie erzählte es so genau, dass Alltägliches plötzlich wichtig und allgemeingültig wurde. Und deshalb las ich die Kinder aus Bullerbü immer wieder. Ich hab mit Lisa Flusskrebse gefangen, ein eigenes Zimmer bezogen und war froh, dass ich keine großen Brüder hatte, dafür auch beste Freundinnen in der Nachbarschaft. Irgendwann haben meine Freundin und ich eine Klorolle an einer Schnur befestigt und diese zwischen unsere Häuser gespannt. Damit konnten wir nun wie Lisa, Inga und Britta aus Bullerbü Briefe zwischen unseren Fenstern hin- und herschicken. Wir hätten auch schreien können, aber wir wollten lieber leise sein.
Bis heute mag ich es noch immer, wenn Bücher, Stücke, Filme es schaffen, Geschichten zu erzählen, die nicht nur spektakulär sind. Wenn ich Beziehungen glaube, Figuren nachvollziehbar handeln und schonungslos gezeigt werden, kann das manchmal so spannend und grausam sein, wie wenn das letzte Einhorn erlegt wird.