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Heft 33

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Ressort: Rezensionen

Hans Platzgumer:
Drei Sekunden jetzt

rezensiert von Clara Posch

Übers Leben und das Gelebtwerden

Ist das Leben Zufall oder Schicksal? Wer sind wir, wohin gehen wir, und was ist der Sinn? „Drei Sekunden jetzt“ lotet die existenziellen Fragen des Seins aus.

Wer sich dem neuesten Werk des gebürtigen Innsbruckers Hans Platzgumer widmet, kommt an Jean-Paul Sartre nicht vorbei. Wir sind zur Freiheit verurteilt, stellte dieser einst fest – schließlich kann sich niemand für oder gegen das Leben entscheiden, bevor er auf der Erde landet. Und wer sich in der Folge vor der Freiheit drücken möchte, flüchtet sich lediglich in die Passivität, ist eine Entscheidung dagegen doch paradoxerweise nicht weniger freie Entscheidung.

François ist ein Meister dieser Passivität. Er ist einer jener Menschen, die sich vom Leben beschreiben lassen, anstatt selbst ihre Geschichten zu schreiben; einer jener Menschen, die ihr Leben lang gefunden werden, anstatt selbst den Sinn zu finden. Das beginnt in seiner frühesten Kindheit: Als Baby in einem Einkaufswagen in einem französischen Supermarché zurückgelassen, kommt François bei Adoptiveltern unter. Die spießbürgerlich-konservativen Toulets wahren stets eine gewisse Distanz; die zarten Bande, die er mit seiner Adoptivmutter knüpft, werden von ihrem patriarchalen Ehemann missbilligt. Er ist es auch, der keine Gelegenheit auslässt, seinem Sohn den Boden unter den Füßen wegzuziehen. François aber lehnt es ab, sich aufzulehnen; er erträgt die Demütigungen geduldig, fast stoisch. Er ist zum Findelkind bestimmt: eine Pflanze ohne Wurzeln, die nicht weiß, wohin sie wachsen soll; eine Marionette, in deren Leben andere die Fäden ziehen.

François widerspricht nicht, als seine Freundin Lucy – ebenfalls Findelkind, aber im Gegensatz zu ihm die „personifizierte Selbstbestimmung“ – nachts im schmutzigen Sand vorschlägt, ihn zu „rupfen“, ist aber auch nicht verärgert, als ein Strandbarbesitzer dazwischenfunkt. Er akzeptiert, als Lucy ihn auf dem Nachhauseweg stehen lässt: „Was wäre mir auch sonst übriggeblieben?“ Als er sein Zuhause verlässt, um „das eigene Leben zu versuchen“, gabelt ihn ein ehemaliger Schulkollege auf, in dessen Hotel er fortan als Beihilfe bei zwielichtigen Geschäften seinen Lebensunterhalt verdient. Eines Tages lernt er in New York schließlich die Liebe seines Lebens kennen, die ihm jedoch schon beim nächsten Klobesuch wieder abhandenkommt. Es ist das einzige Mal, dass er selbst die Initiative ergreift – „mein größter Fehler“ –, woraufhin er im winterlichen Montreal in der Obdachlosigkeit landet und sein Leben wieder in die Hände anderer legt.

Existenzialistische Fragen stehen im Zentrum dieses inhaltlich ansprechenden Romans, und nicht nur ein vorangestelltes Zitat, sondern auch zahlreiche Hinweise im Text machen auf die Thematik aufmerksam. Dieser hätte es allerdings nicht bedurft; etwas mehr Subtilität hätte der Erzählung gutgetan. Schade ist zudem, dass manche Motive ins Leere laufen und einige Wendungen wenig elegant daherkommen. Nichtsdestotrotz könnte #Drei Sekunden jetzt# ein lesenswertes Stück Gegenwartsliteratur sein – wenn da nicht die Sprache wäre, die in erster Linie durch reichlich hölzerne Formulierungen und Stilblüten im Gedächtnis bleibt. Nach Hans Platzgumers Roman #Am Rand#, der 2016 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis landete, enttäuscht sein achtes Werk also vor allem auf stilistischer Ebene. Und am erfreulich überraschenden Ende kommt man in Anbetracht der Ereignisse letztendlich nicht umhin, sich zu fragen: Wenn es die Freiheit der Gedanken gibt – war das wirklich schon alles?

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Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

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