x
Anfrage senden

Heft 29

Erschienen in Heft 29, verspielt
Ressort: Rezensionen

Harald Darer:
Herzkörper

rezensiert von Hannes Luxbacher

Entertain yourself

Harald Darers famoser zweiter Roman widmet sich den zeitgemäßen Themen Gewalt und Langeweile

Small town boredom kann eine vehemente Belastung für Jugendliche und junge Erwachsene sein. Die medial in heavy rotation vermittelten Möglichkeiten, was Leben angeblich alles bedeuten kann – Stichwort „Next irgendwas“ –, sind außer Griffweite, der soziale Druck und der wirtschaftliche Überlebenskampf greifen vermehrt um sich, file under steigende Jugendarbeitslosigkeit. „Here we are now, entertain us“, proklamierten Nirvana Anfang der 1990er stellvertretend für eine potenziell enttäuschte Jugend noch recht passiv. Man möchte meinen, dass es mit der permanenten und allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Freizeitgestaltungsmöglichkeiten jedweder Façon leichter geworden sei, sich die Zeit zu vertreiben, aber denkste! Denn man muss sich schon gewahr sein, dass Zeitvertreib nicht automatisch auch Sinnstiftung bedeutet. Konzentrieren wir uns, da es in Harald Darers zweitem Roman Herzkörper um männliche Jugendliche geht, auf eben diese. Unter dem Einfluss von Sendungen wie Jackass, in denen sich dauerpubertierende Männer mutwillig selbst Schmerzen, wenn nicht gar Schaden zufügen und das Zurschaustellen von bereitwillig erlittenem Leiden Bonuspunkte in diversen sozialen Verbänden garantiert, wurden über die letzten Jahre hinweg diverse Grenzüberschreitungen salonfähig gemacht.

Es sind einfach komplizierte Lebensverhältnisse, in denen sich die drei Jungerwachsenen Andi, Chris und Boro befinden. Desorientiert einerseits, desillusioniert andererseits, zelebrieren sie untereinander sadistische Spiele, in denen das masochistische Element kalkulierterweise in Kauf genommen wird. Denn: Ohne die Bereitschaft, selbst zu leiden, kann schließlich den anderen kein Schmerz zugefügt werden. Und der Schmerz muss sein, anderenfalls spürt man sich ja gar nicht mehr. Neben dem Schmerz, den sich das Trio in selbst entworfenen Mutspielen selbst zufügt, blitzen aber immer wieder auch systemverweigernde Positionen durch, denn wenn sich Desorientierung und Langeweile verbinden, kommt gerade bei (spät)pubertären männlichen Jugendlichen so etwas wie pseudo-anarchisches Gehabe heraus. Darers Hauptfiguren nehmen den kleinstädtischen Mief ins Visier und desavouieren ihn ohne Rücksicht auf die Konsequenz für den eigenen Körper. Selbst der eigene Vater wird nicht geschont und in aller Öffentlichkeit dessen bezichtigt, was im Normalfall unter Verschwiegenheit fällt: Fremdgehen. Der Preis dafür ist schwere körperliche Misshandlung des Sohnes, literweise Blutverlust inklusive.

Und wo der eigene Körper endet, beginnt der Übergriff. Als zusätzliche Zielscheibe muss der Obdachlose Rocko herhalten, der sich selbst zum Großmeister des Schulterausrenkens ausgebildet hat, um so die ihm vom Arbeitsamt vermittelten Stellen schnellstmöglich wieder los zu werden. Aber Rocko ist nicht einfach nur ein Arbeitsunwilliger, er ist auch der gescheiterte Familienvater, ausgestattet mit einer großen Sehnsucht nach seiner Tochter, die ihm immer wieder über den Weg läuft, ihn aber verleugnend ignoriert.
Auf einer zweiten Ebene des Romans treffen einander die beiden Frauen Maria Satori, neue Rektorin an der FH für Sozialberufe, und die Journalistin Simone Remschnik für ein Interview. Was als Porträt beginnt, geht bald in die Beschreibung der Arbeitsweise Satoris über und führt analytische Komponenten ein, die auf das Handeln der männlichen Akteure angewandt werden können. Die beiden Romanebenen umfassen Handlung und Analyse, sie treffen sich im Buch selbst nie, es bleibt den Lesenden überlassen, wie sie die beiden Ebenen aufeinander beziehen. Ist die Handlungsebene bloß das von Satori genannte
Beispiel, das sie ihre Studierenden analysierend durchspielen lässt? Oder ist die Handlungsebene das, was wir mittlerweile täglich bis hin zur professionalisierten Gewalt samt Hooligan-Tourismus erleben müssen, und der theoretisch-analytische Blick der Wissenschafterin bloß noch erklärendes Beiwerk, entkoppelt von dem, was tatsächlich passiert, und nur noch eine Funktion erfüllend wie z. B.Fernsehen, das eine der Personen so beschreibt: „Das Fernsehen ist für den Menschen aufbereitete Wirklichkeit.“ Und nur so sei sie ertragbar.

Rezensionen

Buch

Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

Buch

Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

Buch

Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
rezensiert von Lisa Höllebauer

Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

Buch

Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

Buch

Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

Buch

Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

    Anfrage

    Möchten Sie ein Heft bestellen?
    Bitte geben Sie die Heft-Nr. und Ihre Adresse an:

    Ihre Kontaktdaten werden zum Zweck der Kontaktaufnahme im Rahmen dieser Anfrage gespeichert. Mit dem Absenden dieses Formulars stimmen Sie dieser Verwendung zu. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.