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Heft 29

Erschienen in Heft 29, verspielt
Ressort: Rezensionen

Ilir Ferra:
Minus. Roman

rezensiert von Werner Schandor

Das Wettcafé als Habitat

Ilir Ferra entführt in Minus in die Kaschemmen des UnGlücksspiels

Wer wissen will, wie es in einem Wettcafé zugeht, kann eines aufsuchen und sich das Gewand von der rauchgeschwängerten Luft verstinken lassen. Oder er kann den Roman Minus von Ilir Ferra lesen, denn der öffnet uns die Tür ins Innerste eines typischen Wettcafés in Wien-Meidling. Der Ich-Erzähler versieht dort seinen Dienst als Einschreiber, das heißt, er nimmt die Wetten der Spieler an und überträgt die Einsätze und Wettdetails ins Computersystem. Gewettet wird auf alles: Fußball und Basketball, Golf und Tennis, Hunderennen und Pferderennen, ja sogar auf jahrzehntealte Videos von Hunde- und Pferderennen, die von einem zentralen Computer nach Zufallsprinzip auf die Bildschirme gezaubert werden und die deshalb Computerrennen genannt werden. Die einzelnen Einsätze der Spieler sind gering bis mittelhoch – es geht von Cent-Beträgen an den Spielautomaten hinauf bis maximal 100 Euro pro Sportwette; die Verluste, die sich zusammenläppern, sind dennoch ansehnlich, denn fast alle, die im Wettcafé verkehren, spielen so lange, bis sie zuerst den Boden unter den Füßen verlieren. Und am Ende so hart aufschlagen, dass jedes Leben aus ihnen entweicht:

„[…] die Gesichter enthielten keinerlei Ausdruck. Es war nicht mehr klar, ob sie noch als Lebewesen zu betrachten waren. Ihr Lebensgefühl hing von dem Geld ab, das sie zum Spielen verwendeten, und wenn dieses fehlte, verwandelten sie sich in Gegenstände.“

Ilir Ferra geht es aber nicht um die Kritik am System, sondern um die Menschen, die das Wettlokal der fiktiven Kette „BetOn“ bevölkern: Detailreich beschreibt er einerseits die Spieler – vorwiegend Migranten aus Bosnien und Serbien sowie Flüchtlinge aus Tschetschenien und Nigeria – und andererseits die Beziehungen zwischen dem Ich-Erzähler und den Leuten im Lokal: die Freundschaft mit dem bankrotten Spieler Niko und mit dem Ex-Fußballprofi Bekim, mit dem es nach einer Verletzung bergab ging und der vor den Automaten abhängt; oder mit dem Kiffer Sertan, mit dem er sich während des Dienstes den einen oder anderen Joint reinzieht. Dann gibt es noch die Spannungen zwischen dem Erzähler und seinem zwielichtigen Kollegen Babel, der Opfer eines Überfalls wird, wo nie klar ist, ob er den nicht selbst angezettelt hat; sowie zum nigerianischen Großmaul Shaggy, der den Erzähler verbal bedroht.

„Das waren alles sonderbare Gestalten. Aber je mehr Zeit du mit ihnen verbrachtest, umso normaler erschienen sie dir. Irgendwann merktest du, dass es nicht anders sein konnte, weil du derjenige warst, der ihnen mit jeder Sekunde ähnlicher wurde.“

Damit ist auch der Handlungsverlauf des Buches angedeutet, sofern man bei diesem leichten Gefälle, das Ferra in kleinen Schritten beschreibt, von Handlung sprechen kann: Es geht bergab: vom vitalen Plus hinunter ins Minus der Spielerexistenz, die nur noch vor den Automaten und Bildschirmen auflebt.
Der Ich-Erzähler will dem seelischen Niedergang entkommen, indem er schreibt und seine Notizen, die er während seiner Früh-, Abend- und Nachtdienste anfertigt, zu einem Buch zusammenstellt. Er möchte Schriftsteller werden – wie der Autor: Ilir Ferra wurde 1974 in der Hafenstadt Durrës in Albanien geboren und lebt seit 1991 in Wien. Er ist Übersetzer für Englisch und Italienisch, hat 2008 den Preis Schreiben zwischen den Kulturen gewo nen und seither auf Deutsch bereits zwei Prosabände und einen Roman veröffentlicht. Auch wenn die mit Reflexionen unterfütterten Beschreibungen in Minus manchmal ins Leere laufen und Ferra die aus dem Rahmen fallenden Schilderungen der Kiffergelage in seinem Freundeskreis hätte aussparen können, zieht einen der Roman doch weitgehend in seinen Bann, denn der Autor lässt selbst in den kleinsten Details immer auch das große Ganze durchschimmern. Dadurch nehmen viele Passagen poetisch ordentlich Fahrt auf. Veranschaulichen lässt sich das an etlichen Beispielen – etwa an der Schilderung der Geste, mit der die Spieler nach einer verlorenen Wette ihre Tickets zerknüllen:

„Der Zauber des Spiels verwandelte sich in einen Makel, der als körperlich empfunden wurde. Was als Spaß begonnen hatte, endete als Qual. Plus wurde Minus, die Illusionen zerstört. Die Beschaffenheit des Thermopapiers lud dazu ein, das Ticket zu zerknüllen. Die feierliche Entsorgung des Zettels war die einzige Entschädigung. Das Herz, als Zuflucht, blieb verschont. Dort sammelten sich zerbröckelte Hoffnungsreste und begannen sich neu zu formieren […].“

Mit großer Formulierlust beschreibt Ferra in Minus wirbelnde Impressionen aus den verrauchten Kaschemmen des (Un-)Glücksspiels. Und er verdeutlicht, dass diese Lokale für die verlorenen Seelen der Spieler auch ein Heimathafen sind.

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