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Heft 33

Erschienen in Heft 33, anlegen
Ressort: Rezensionen

Lucia Berlin:
Was ich sonst noch verpasst habe. Storys.

rezensiert von Sarah Fötschl

Eine späte Entdeckung

Lucia Berlin schrammt in ihren Erzählungen durch alle Milieus.

Lucia Berlin verstarb 2004 in Marina del Rey, Kalifornien, und ihre Texte gelten als Wiederentdeckung. Die Autorin wird posthum eine der großen amerikanischen Literatinnen des letzten Jahrhunderts genannt. Eine späte Entdeckung. Geboren als Lucia Brown 1936 in Alaska, wuchs sie in verschiedenen Minenstädten der Rocky Mountains auf: Montana, Idaho, Arizona, in El Paso, Texas, später in Chile, sie studierte in New Mexiko, lebte dann in New York, wo sie als Lucia Newton publizierte. Aufgrund ihres Ehemannes landete sie wieder in Mexiko, arbeitete als Aushilfslehrerin an der Universität von New Mexico, es folgte Umzüge nach Kalifornien und Boulder, Colorado, wo sie als Associate Professor kreatives Schreiben unterrichtete. Diese Position musste sie im Jahr 2000 aufgrund ihrer Skolioseerkrankung aufgeben. Da sie das Klima im Mittelgebirge von Boulder aufgrund ihrer Atembeschwerden nicht vertrug, zog sie wieder nach Kalifornien. Berlins Leben war von Ortswechseln und Grenzüberschreitungen geprägt und auch von Alleinsein und jener Stärke, die Menschen lernen, die schon als Kind laufend wechselnde Nachbarschaften und selten lange Freundschaften kannten. Dass ihr Vater Bergbauingenieur und ihre Familie wohlhabend gewesen war, änderte nichts daran, dass Lucia Berlin in ihren Erzählungen durch alle Milieus schrammt: Katholische Schulen und prüde protestantische Moralverstrickungen, illegale Abtreibungen im mexikanischen Grenzgebiet (wo sich wohlhabende Amerikanerinnen genauso einfinden wie Minderjährige und mexikanische Mädchen und Frauen), großspurige neureiche protestantische Texaner, die aus ihrer neuen einmotorigen Piper Cub zu Weihnachten Spielzeug und Lebensmittel aus der Luft über Armenvierteln von Mexiko abwerfen wollen, kommunistische Lehrerinnen mit naivem Idealismus, alkoholkranke Großväter, Onkel und Mütter, Drogendealer, Krankenschwestern, die sich um schwerstbehinderte und todkranke Kinder kümmern, brutale Verwahrlosung, sexueller Missbrauch und ohnmächtige junge Frauen, Obdachlosenheime und gewalttätige Übergriffe, vor Autorität strotzende Ärzte, Putzfrauen, die die menschliche Psychologie und die Ordnung der Dinge besser kennen als Psychiater, senile Väter, die schrittweise jeden Bezug zur Realität verlieren und deren demente Persönlichkeit im Alter in keiner Facette mehr jener seriösen, intelligenten, integren Kraft nahekommt, die einmal war. Lucia Berlin kennt viele Milieus und auch die Realität, in der der Übergang eines Schicksals zwischen Milieus fließend sein kann. Sie arbeitete oft überqualifiziert trotz ihrer universitären Ausbildung in Sekretariaten, Krankenhäusern, Notaufnahmen, Gefängnissen, als Telefonistin, Lehrerin oder Putzfrau, bewegte sich in multikulturellen Bereichen, beschreibt US-Amerikaner in Südamerika und Südamerikaner in den Staaten. Sie ließ sich drei Mal scheiden, zog vier Söhne teilweise alleine groß, sie trank phasenweise viel Alkohol und pflegte kontinuierliche Brieffreundschaften mit anderen Autoren, unter anderem mit Robert Creeley und Kennward Elmslie. Die Sprache in den Storys wirkt oft schroff, Berlin setzt Verknappungen und Verkürzungen in der Ausdrucksweise als realistische Stilmittel ein, relevante Benennungen und Aussagen sind vereinzelt in Spanisch gehalten. Die Figuren in ihren Storys kehren wieder. Die Ich-Erzählerin, von der man meinte, dass es sich in der Einführungsgeschichte klar autobiografisch um Berlin selbst handelte, kehrt in der nächsten Geschichte wieder, dann: Viele Figuren kehren wieder – frühere Versionen lassen sich in den Umständen anderer Figuren in den nächsten Geschichten vermuten. Die voneinander unabhängigen Storys greifen doch ineinander über, eine Art offener Kanon, Berlins Art zu schreiben erinnert an Beat-Autoren. Jedenfalls empfiehlt es sich, Lucia Berlins Storys im englischen Original zu lesen. Die deutsche Übersetzung ist gut, versucht den stilistischen Duktus wiederzugeben, es entgehen einem aber doch die originären Stilmittel und Ausdrucksweisen des Originals.

Rezensionen

Buch

Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

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Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

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Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
rezensiert von Lisa Höllebauer

Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

Buch

Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

Buch

Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

Buch

Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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