x
Anfrage senden

Heft 29

Erschienen in Heft 29, verspielt
Ressort: Rezensionen

Martin Amanshauser:
Der Fisch in der Streichholzschachtel

rezensiert von Werner Schandor

Der Austro-Murakami

Wenn Piraten über Kreuzfahrtgäste staunen und umgekehrt

„Einige Vorwitzige zückten glänzende rechteckige Kästchen von der Größe zusammengefalteter Taschentücher und hielten sie in unsere Richtung, als wollten sie sich durch die Luft mit uns verbinden. Manche taten es verschämt, manche offen. Die Kästchen knackten und surrten, einige blitzten wie Kanönchen, doch es folgte kein Donner, und ihr Beschuss rief keine sichtbaren Folgen hervor. […] Ich konnte mir ihre Vorgangsweise nur dadurch erklären, dass dies Teil eines Brauchtums war.“ – Wer solcherart über die Menschen von heute staunt, die ihre Smartphones und Kompaktkameras auf einen richten, ist kein Fremder von einem anderen Planeten, sondern ein Zeitreisender namens Salvino aus dem frühen 18. Jahrhundert, den es in Martin Amanshausers Roman Der Fisch in der Streichholzschachtel in die Gegenwart geschleudert hat. Genauer gesagt hat es ihn an Bord eines turmhohen Kreuzfahrtschiffes verschlagen, das in der Karibik in einen Mega-Sturm geraten war und – genau wie das Piratenschiff, von dem Salvino stammt – in ein Zeitloch geworfen wurde. Dort begegnen sich die beiden so fremden Gruppen: da ein Haufen versprengter Piraten, die das Kreuzfahrtschiff Atlantis mit seinen 1.200 Passagieren für eine bislang unentdeckte neue Hochkultur halten; und dort die Gäste und Crew des modernen Dampfers, die davon ausgehen, ein paar Verrückte aufzulesen, die eine verschärfte Form eines historisierenden Rollenspiels auf hoher See abziehen.

Die Idee zu diesem Setting kam dem Reisejournalisten und Autor Martin Amanshauser vor einigen Jahren in Wilhelmshaven, als er miterlebte, wie ein riesiges Kreuzfahrtschiff von einem nachgebauten, vergleichsweise kleinen Piratenschiff in den Hafen geleitet wurde. Der Keim für den Fisch in der Streichholzschachtel war gelegt. Zwei Jahre lang dauerte die Arbeit an diesem fast 600 Seiten starken Roman – der erste des Autors seit zehn Jahren.
Das Buch beginnt recht konventionell aus der Sicht von Fred Dreher, seines Zeichens erfolgloser Wiener Unternehmer in Sachen Sicherheitstechnik, der mit seiner Frau und den beiden jugendlichen Kindern als Tourist durch die Karibik kreuzt und sich dabei in der Kabine wie ein „Fisch in der Streichholzschachtel“ fühlt. Dreher ist einer jener zynischen Verlierertypen, die wegen allem was zu raunzen haben – ein typischer Austriake halt. Dass seine verflossene Jugendliebe Amelie zufällig auch mit an Bord ist und Fred gerade nicht so recht weiß, wie er eigentlich zu seiner Frau und Familie steht, bereitet den Boden auf für eine Klamotte aus Irrungen und Wirrungen. Doch es bleibt nicht bei der handelsüblichen Poproman-Sitcom, und das ist einem Jahrhundert-Orkan zu verdanken, der das Kreuzfahrtschiff manövrierunfähig und von der Außenwelt abgeschnitten im „Meer der Kariben“ dem herabgewirtschafteten Piratenschiff begegnen lässt. Und nicht zuletzt ist es Martin Amanshausers erzählerischer Bravour zu verdanken, mit der er einen trivialen Raunzer-Roman mit einer historisierenden Abenteuergeschichte kreuzt und damit einen literarischen Hybrid schafft, der Gesellschaftsroman, Entwicklungsroman und Verwicklungsroman gleichzeitig ist – und darüber hinaus höchst amüsante Lektüre. Zu den Highlights zählt, wenn der antike Entdeckergestus von Salvino, dem Geografen am Piratenschiff, auf die Errungenschaften der modernen Zivilisation trifft, und wenn Fred Dreher das Heldische in sich entdeckt und das Piratenschiff stürmt, um seine Tochter, die die Freibeuter ur-cool findet, vor den Irren zu retten.

Mehrmals fällt in Amanshausers Buch der Name von Haruki Murakami als Reiselektüre. Dass das Surreale wie bei Murakami in den banalen Alltag hereinbricht und das Abgründige unseres Lebens aufzeigt, war in der deutschsprachigen Literatur eigentlich schon längst fällig. Martin Amanshauser hat im Fisch diesen Schritt gesetzt. Während aber Murakami-Bücher durch die Absenz von Humor immer die nackte conditio humana verhandeln, hat Amanshauser seinen Roman als Komödie angelegt. Nachteil ist das keiner. Hin und wieder kann man als Leser im Fisch mit den verschiedenen Stilebenen durcheinanderkommen, aber im Großen und Ganzen bereitet die detailliert ausgearbeitete und bis in die Nebenstränge stimmig arrangierte Handlung den Boden für ein großes Lesevergnügen nicht nur für Strandtage oder Reisen auf hoher See.

Rezensionen

Buch

Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

Buch

Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

Buch

Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
rezensiert von Lisa Höllebauer

Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

Buch

Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

Buch

Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

Buch

Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

    Anfrage

    Möchten Sie ein Heft bestellen?
    Bitte geben Sie die Heft-Nr. und Ihre Adresse an:

    Ihre Kontaktdaten werden zum Zweck der Kontaktaufnahme im Rahmen dieser Anfrage gespeichert. Mit dem Absenden dieses Formulars stimmen Sie dieser Verwendung zu. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.