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Heft 44

Erschienen in Heft 44, nachgefragt
Ressort: Rezensionen

Olaf Olafsson:
Berührung

rezensiert von Hannes Luxbacher

Die Liebe in der Krise

Olaf Olafsson verschränkt in seinem Roman „Berührung“ den Lauf der Liebe mit der Covid-Pandemie

Es ist der Reiz des Bedächtigen, dem man in Olaf Olafssons Roman Berührung begegnet. Ein Mann, ein Facebook-Klick, eine globale Krise, ein langer Weg zurück zu einer Frau, deren Schweigen über fünf Jahrzehnte hinweg nicht in der Lage war, ein komplettes zu werden. Wer sich auf diesen ruhigen, von leiser Melancholie durchzogenen Roman einlässt, wird beim Lesen durch das feine Gespür des Autors für das, was Menschen im Innersten bewegt, belohnt – auch oder gerade dann, wenn das Sozialleben überfallsartig neue Formen annehmen muss:

Kristófer ist erfolgreicher Restaurantbesitzer in Reykjavík, doch dann kommt die Corona-Pandemie und der berufliche Alltag verstummt: Das Restaurant schwächelt aufgrund der uns allen erinnerbaren Social-Distancing-Maßnahmen, die Alternative, als Zustelldienst weiterzumachen, ist auf Dauer mäßig attraktiv – und als 74-Jähriger darf man auch schon mal ans Ende der beruflichen Laufbahn denken. Und dann poppt auch noch eine Freundschaftsanfrage im Facebook-Account auf, die den Namen seiner ersten großen Liebe trägt – und das Leben nimmt eine späte Wendung.

Kristófer hat einige Jahrzehnte in einer Ehe gelebt, die mehr von Stabilität als von tiefer emotionaler Erfüllung geprägt war – verlässlich, stabil, aber nur eingeschränkt erfüllend, wie es scheint. Die wahre Liebe seines Lebens, Miko Nakamura, verschwand vor über fünfzig Jahren von einem Tag auf den anderen, als Miko mit ihrem Vater London, dem damaligen Wohnort der beiden Hauptfiguren, verließ. Diese unerfüllte, abrupt und unerwartet zu Ende gegangene Beziehung hat eine dauerhafte Lücke hinterlassen. Nun, nach dem Tod seiner Frau Ásta und in einer Phase globaler Unsicherheit, weckt Mikos unerwartete Nachricht in Kristófer den Wunsch, die Vergangenheit zu klären und den alten Gefühlen auf den Grund zu gehen. Die Reise ist nicht nur eine Suche nach einem Menschen, sondern zugleich der Versuch, die eigene Biografie zu erkunden – eine Melange aus Verlusterfahrung, wohlfeil gelebtem Leben und der Suche nach erinnerten Empfindungen.

Kurzentschlossen steigt Kristófer also knapp vor dem Lockdown in ein Flugzeug nach London und die Spurensuche beginnt. Die Erinnerungen an ein abgebrochenes Wirtschaftsstudium tauchen auf, Unzufriedenheit mit dem allgegenwärtigen Konkurrenzkampf – und der Ausstieg aus dem allem aufgrund einer schicksalhaften Begegnung mit Miko im Lokal ihres Vaters. Kristófers Reise – von Reykjavík über das vertraute London der verlorenen Jugend bis ins ferne Tokio – wird so auch zur Expedition ins Innere.

Geschickt verschneidet Olafsson Rückblenden und innere Monolge mit Telefonaten und Textnachrichten in der Gegenwart und erklärt so Kristófers Spurensuche auf zweierlei Art: Die Gegenwart lastet auf ihm – das Verhältnis zur Stieftochter ist mit den an ihn herangetragenen Forderungen etwas belastet, sein Bruder leidet im Pflegeheim unter seinen Mitbewohner:innen – gleich wie auch das plötzliche Verschwinden Mikos in der Vergangenheit auf ihm lastet. Je näher er aber Tokio kommt, desto klarer werden die vergangenen Ereignisse. Olafsson verschränkt meisterhaft die Zeitebenen und legt Schicht um Schicht die Ereignisse der Vergangenheit frei.

Beeindruckend ist, wie es dem Autor gelingt, mit einer fast schon karg zu nennenden, mit wenigen Adjektiven auskommenden Sprache eine tiefe Gefühlswelt entstehen zu lassen. So wächst, was zunächst als bloße Erinnerung erscheint, ganz allmählich zu einer Beziehung, die wieder fühlbar wird – für Kristófer ebenso wie für die Leserinnen und Leser. Nebenbei werden auch gesellschaftliche Verhältnisse aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg offenbart, Umbruchstimmungen verschränken sich mit Stigmata: Mikos Vater floh mit ihr gleichsam aus Japan, denn ihre Lebensgeschichte ist mit einem historischen Trauma verwoben – dem der Hibakusha, jener Menschen, die den Atombombenabwurf über Hiroshima überlebt haben, jedoch in der Wahrnehmung der Bevölkerung als kontaminiert galten und daher an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Wie viele Jahrzehnte nach dem eigentlichen Ende Kriege ihre beständige Wirkung entfalten, wird auch in diesem Roman einmal mehr offenbart.

Der Roman wurde übrigens 2024 unter dem Titel Touch verfilmt und von Island für den Oscar für den Besten Internationalen Film nominiert. Die filmische Umsetzung besticht vor allem durch die charmante Performance der Hauptdarsteller:innen, kann dem Buch und seiner Vielschichtigkeit aber nicht ganz das Wasser reichen. Dennoch ist der Film so sehens- wie das Buch unbedingt lesenwsert.

 

Olaf Olafsson: Berührung. Roman. Aus dem Isländischen von Gisela Marehn. Berlin/München: Berlin Verlag 2024, 335 Seiten

 

Der Roman ist hier erhältlich.

 

 

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