Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten
Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich ein paar Überlegungen festhalten. Seit einiger Zeit überdenke ich nämlich meine Bewertungskategorien für Literatur. Wir, meine Kolleg:innen und ich, fragen uns: Was bedeutet das überhaupt? Sprechen übers Schreiben? Übers Lesen? Woran ein gutes Buch festmachen? Zusätzlich sind wir uns unsicher: Was braucht es, um über Texte urteilen zu dürfen? Was gibt gerade uns die Berechtigung? Ein abgeschlossenes Studium? Ein gefülltes Bücherregal? Eine offene Welthaltung? Sie werden es bestimmt schon herauslesen: Wir sind in unseren Bewertungskategorien vorsichtiger geworden. Das liegt vermutlich an unserer Erfahrung, wie schwer es ist, einen Text zu verfassen, bei dem jeder Satz, jedes Wort, jeder Punkt stimmt. Wir wissen, was es bedeutet, wenn eine Idee ein ganzes Buch werden will, wenn ein Verlag gefunden werden will, wenn es heißt, trotz Rückschlägen dranzubleiben. Deshalb gilt meine Wertschätzung all jenen, die den Mut und Biss hatten, das Geschriebene zu veröffentlichen.
Gemeinsam überlegen wir uns neue Kategorien, die unsere Lektüreerfahrung nachvollziehbar machen und unserem Anspruch an angemessener Literaturkritik gerecht werden. Wir probieren zunächst eine Trennung zwischen gutem Buch und gutem Text. Für einen befreundeten Autor ist ein Buch schon dann gute Literatur, wenn es eine einzelne Stelle darin gibt, die ihn nachhaltig beeinflusst. Eine einzelne Stelle, die bis in den Alltag hinein – das heißt auch nach der Lektüre noch – Bestand hat. Wir schreiben eine Liste mit möglichen Bedingungen, unterscheiden zwischen objektiven und subjektiven Kriterien und sind auch dort verunsichert, was die Einteilung angeht.
Verstehen Sie mich nicht falsch, dieser Text will die Literaturkritik nicht abschaffen. Es ist wichtig, über Literatur zu sprechen und verschiedene Meinungen zuzulassen – das ist auch Teil eines demokratischen Prozesses, der in Zeiten wie diesen laufend geübt werden muss. Dieser Text wird sich auch der Rezension nicht verwehren, ich will in dieser – viel zu langen – Einleitung vielmehr meine Haltung erklären und indem ich über meine (subjektiven) Bewertungskriterien spreche, auch meine Entscheidungen offenlegen.
Also beginnen wir mit Folgendem: Was Literatur soll: Literatur erschließt mir eine Welt, die ich so noch nicht kenne. Das heißt nicht, dass Literatur mit meinen Lebensrealitäten übereinstimmen muss, vielmehr verändert sie meine Perspektive auf das Vorhandene, lässt mich über Bekanntes neu nachdenken. Ich werde während des Lesens ertappt, muss meine Einstellung überdenken und hinterfrage mich und meine Perspektive. Das sind sie, die Kriterien, die für mich – aktuell – ein gutes Buch/einen guten Text ausmachen. Wenn das noch in einer Form passiert, die sich je nach Inhalt innovativ präsentiert, die weggeht von einer allzu klassischen Erzählung, dann hat das Buch gute Chancen, mich langfristig durch die Welt zu begleiten.
Und jetzt aber wirklich: Das Buch Mein Taxi ist da hat nicht nur mein Denken über die Welt beeinflusst (Näheres dazu später), sondern hat sein zentrales Motiv während des Lesens in meiner Realität parallel dazu unter Beweis gestellt. Gute Literatur ist: Im Dialog mit dem Text eine Selbsterfahrung machen.
Vielleicht noch kurz zur Handlung: Die queere POC-Protagonistin Damani arbeitet Tag und Nacht als Taxifahrerin bei RideShare. Bei einer ihrer Fahrten lernt sie Jolene kennen. Diese führt ein völlig konträres Leben: Sie besitzt ein Wochenendhaus am Meer, geht regelmäßig zum Ashtanga-Yoga, leistet sich im Anschluss einen 10-Euro-Cappuccino mit Sojamilch aus fairem Anbau to go. Die beiden verlieben sich (trotz oder auch gerade deshalb) ineinander und versuchen einen Platz in der Welt der anderen zu finden. Doch ihre Lebensstile und ihre damit verbundenen Ansprüche und Privilegien sind zu konträr: Die Beziehung scheitert, auch weil es an Solidarität seitens Jolenes fehlt, oder in den Worten der Autorin Priya Guns: „War sie der Ansicht gewesen, dass Black Lives zählten, bis sie selbst mit dem Rücken zur Wand stand?“
Als ich das Buch lese, reise ich von Leipzig nach Graz. Der Zug ist voll, die Sitzplatzreservierungen wurden aufgehoben. Und trotzdem diskutieren zwei Männer mit einer jungen Frau über ihre vermeintlichen Sitzplätze. Beschimpfen die junge Frau und beschweren sich, bis andere Fahrgäst:innen zu ihrer Unterstützung Stellung beziehen. Später erfahre ich, dass die beiden Männer von einem Yoga- und Achtsamkeitswochenende nach Hause fahren und bin erstaunt, wie wenig ihr Denken mit ihrem Handeln im Einklang ist. Das erinnert mich einerseits an einen Vortrag von Milo Rau , fasziniert mich aber viel mehr, weil ich im Buch von einem ähnlichen Phänomen lese. Dort wird diese Zwiespältigkeit auf zwei Ebenen abgehandelt. Im Allgemeinen durch das Portrait einer Gesellschaft, die gleichzeitig für und gegen alles auf die Straße geht „“Die Demonstrationen bewegten sich in dieser Nacht wie eine Welle durch die Straßen […] Stoppt Deportationen! Rage against INJUSTICE! Wie viele Demoschilder brauchen wir noch – WIR SIND AM ARSCH!!!“, wenn es dann aber darum geht, Stellung zu beziehen, wegschaut und auf den eigenen Vorteil bedacht handelt. Auf einer privaten Ebene wird dieses Motiv durch die Figur Jolene illustriert, die sich als die Geliebte von Protagonistin Damani zunächst weltoffen und politisch engagiert zeigt, aber von rassistischen Vorurteilen gesteuert handelt, als sie später in Damanis Welt eintaucht.
Auf Inhaltsebene wird das Schwarz-Weiß-Denken von Instagram-Aktivist:innen anhand einer Vielzahl von gesellschaftlichen Themen (Klassismus, Rassismus, Sexualtiät etc.) kritisiert und im Zuge dessen thematisiert, welche verschiedenen Auswirkungen (politische) Entscheidungen in unterschiedliche Schichten hinein haben. Dabei wird auch appelliert, sich der eigenen Privilegien bewusst zu sein bzw. zu werden: „Wie hatte sie die Polizei dazu gebracht, zu mir nach Hause zu kommen, während Stephanie nur mit Mühe und Not einen Polizisten dazu bewegen konnte, bei ihr vorbeizuschauen, nachdem ihr Ex ihr den Fernseher geklaut hatte? Und Toni hatte man sogar gesagt, sie solle sich nicht so anstellen, als ein Mann sie auf der Straße begrapscht hatte.“
Guns fordert ihre Leser:innen immer wieder zur Reflexion auf. So frage ich mich während der Lektüre, ob ich Teil der Demo-Tourist:innen-Gesellschaft wäre, wie ich selbst in manchen Situationen reagieren würde und ertappe mich dabei, wie ich durch vorurteilsbehaftetes Lesen vorschnell meine Meinungen bilde. Erstaunlich ist, dass obwohl wir in unserem Denken und Handeln belehrt werden, dies nicht mit erhobenem Zeigefinger geschieht, sondern vielmehr fein dosiert und ganz nebenbei. Dass das Buch trotz dieser ernsten Themen humorvoll bleibt, ist eine große Qualität der Autorin, was mitunter auf die zynische Sprache im Buch zurückzuführen ist. Apropos Sprache: Die ist jung, angenähert an soziale Medien, direkt und – besonders erfreulich – an jede Figur nachvollziehbar angepasst.
Was die Form betrifft, hat sich die Autorin für einen klassischen Plot entschieden, dessen Konflikte in 95 kurzen Kapiteln bis zum Ende hin immer mehr eskalieren, wodurch das Buch ein Tempo aufnimmt, das die Leser:innen an den Text fesselt. In anderen Worten: #Dein Taxi ist da# wurde nur beim Umsteigen aus der Hand gelegt und war mit Ankunft in Graz ausgelesen. Anknüpfend an meine Bewertungskriterien (siehe: Was Literatur soll) spreche ich eine Leseempfehlung aus und warne im selben Atemzug vor: Es kann passieren, dass sie nach der Lektüre Ihr Leben und die damit verbundenen Privilegien (noch mehr) reflektieren.
Sie können das Buch hier erwerben.