Tollheiten, Torsionen, Tote
Stephan Roiss beschreibt ein Jahr Zivildienst in einem Altersheim
Gramding heißt das Prosadebüt des Oberösterreichers Stephan Roiss. Was ein gutes Wortspiel wäre – das Ding, das einen grämt –, ist der fiktive Name einer oberösterreichischen Bezirksstadt, in der Wolfgang, der Held des kurzen Textes, seinen Zivildienst in einem Altersheim absolviert. Beworben hat er sich um eine Stelle bei den Kinderfreunden, gelandet ist er dort, wo Menschen ihre letzte Runde vor dem Friedhof einlegen.
Wolfgangs idealistische Vorstellung, man würde beim Zivildienst im Altersheim viel Zeit mit alten Menschen verbringen, sich bei „Fang den Hut“ ihre Lebenserinnerungen anhören und en passant vielleicht sogar mit seiner eigenen, positiven Lebenseinstellung einen alten Nazi bekehren können, weicht schnell der Ernüchterung: Das Pflegepersonal ist mehr oder minder rund um die Uhr damit beschäftigt, inkontinente und demente alte Menschen sauber zu halten, zu füttern und daran zu hindern, dass sie Blödsinn machen. Mehr an Zuwendung ist rein zeitlich nicht drinnen – von der psychischen Belastung ganz abgesehen.
Um Geld zu sparen, wohnt Wolfgang selbst im Heim. Seine Gedanken und Erfahrungen notiert er im Weißraum von Gottfried Benns Sämtlichen Gedichten in einer gelbstichigen Ausgabe aus dem Jahr 1983. „Ich schlug das Buch auf, griff zum Kugelschreiber und schrieb unter ein Gedicht namens Betäubung das Wort Zivildienst. Den Vers ‚wo Lust und Leiche winkt‘ hob ich mit gelbem Stift hervor. Womöglich aufgrund seiner unsauberen Grammatik. Meine Hände rochen nach Desinfektionsmittel.“
Das Altersheim, wo laufend Leute sterben, wird gewissermaßen zum Prüfstein der Lebenstauglichkeit des jungen Mannes. Nicht nur, dass sich Wolfgang seine hehren Vorstellungen von menschenwürdiger Altersversorgung abschminken muss, macht ihm auch ein – in einem einzigen Satz abgehandeltes – Techtelmechtel mit der Nachtschwester einen Strich durch seine Beziehungsrechnung. Seine Freundin Natalie macht Schluss mit ihm, meldet sich aber nach drei Wochen wieder mit einer besorgniserregenden Nachricht, welche die nach dem Zivildienst geplante Weltreise schwer infrage stellt: Die Regel ist überfällig …
Stephan Roiss schildert das bewegte Jahr eines Zivildieners in Rückblenden, Tagebuchnotizen und Reflexionen, wobei dramaturgisch gewitzt immer das Damoklesschwert allzu früher Vaterfreuden über ihm schwebt. Wo andere Autoren die Begebenheiten und Überlegungen dieses lebensverändernden Zivildienstjahres auf 300 Seiten ausgewalzt hätten, begnügt sich Roiss mit nicht einmal 60. Sein Stil ist demnach – vielleicht der Lektüre der Benn-Gedichte geschuldet – eher lyrisch verknappt zu nennen. Das hat zwar seine Qualitäten, ist aber insgesamt schade, denn man würde dieser pointierten, intelligenten Erzählstimme, die so souverän die Ereignisse Revue passieren lässt, sehr gerne länger zuhören. Wolfgangs Erkenntnis nach zwölf Monaten ist jedenfalls ernüchternd: „… ich habe gelernt, dass ein Bewusstseinsstrom versickern kann und dass der Sitz der Seele ein Leibstuhl ist; ich sehe Haut reißen wie Papier, Rippen brechen wie Gräten, Tollheiten, Torsionen, Tote: Nichts davon fährt mir durch Mark und Bein wie das Abgestorbensein vor dem eigentlichen Ende.“