Noch mehr Multiversen bitte!
Über Timo Brandts Romandebüt „Oder die Löwengrube“
Feministische, sexuell aufgeladene Science-Fiction. So in etwa ließen sich die Romane beschreiben, mit denen Lynn durchaus erfolgreich am Buchmarkt besteht. Wobei Lynn den Buchmarkt eh kritisch sieht und die Formulierung „sexuell aufgeladen“ energisch ablehnen würde. Vielmehr sei, sagt sie, in ihren Büchern Sexualität ganz einfach präsent, weil sie von ihr nicht – wie sonst oft – ausgeblendet werde.
Lynn, das ist die Hauptfigur in „Oder die Löwengrube“, dem Romandebüt Timo Brandts. Beschreibt Brandt das Schriftstellerinnenleben seiner Heldin und lässt er sie über das Schreiben und den Betrieb nachdenken, ist das wohltuend weit entfernt vom Verdacht der Autofiktion. Hier der Lyriker Brandt, der sich mit einem ersten großen Prosawerk der Öffentlichkeit vorstellt, dort Lynn, die nach zwei erfolgreichen Büchern in eine Schreibkrise fällt. Eine Krise, die sich nicht zuletzt als Spiegel ihrer privaten Situation präsentiert: Lynns Partner Daniel ist in einer Krankheit gefangen und/oder in eine Depression gerutscht. Wollte die Leserin (der Leser sei als Minderheit mitgemeint) sich also auf die Suche nach autobiografischen Bezügen begeben, wäre es eher die Figur des Daniel, die Merkmale des Autors trägt. Zum Beispiel schreibt er Gedichte.
Und das ist es schon, das erste Element, das dieses Buch unter anderem aus- und auch so spannend macht: Brandt liebt es, falsche Fährten zu legen, Kosmen zu erschaffen, die so nicht existieren und doch in einer Anschaulichkeit gezeichnet werden, dass die Leserin glaubt, sich in einem Paralleluniversen zu finden. Diese beeindruckende Beschreibungspotenz (ja, der Rezensent bezieht sich hier ausdrücklich auf den jungen Peter Handke) trägt auch das, was sich als Kern des Romans entpuppt: In unprätentiöser Genauigkeit zeichnet Brandt die Tragödie einer Liebe nach, die langsam im schwarzen Loch seelischer Erstarrung versickert. Schmerzlich nah verfolgt er eine Zweisamkeit, die sich langsam aber längst in zwei Einsamkeiten aufgedröselt hat.
Lynns Dasein präsentiert sich als Puzzle aus Fragen und Erinnerungen, als stiller Kampf um das eigene Leben, das sich – torkelnd am Abgrund des Anderen – behaupten muss. „Oder die Löwengrube“ markiert schon im Titel den Weg: Weg von Daniel. Aber wie geht das? Und wer oder was wartet dort bei den Löwen? Brandt spannt seine Geschichte in einem Dreieck auf: Da ist Lynns Schreiben, da ist die Krankheit, da ist die Dreiecksgeschichte, die sich langsam aber unerbittlich anbahnt. Vielleicht, weil sie immer schon präsent war?
All das schildert der Neo-Romancier in so virtuoser Weise, dass sich das hier eingangs ausgebreitete Blabla über Autofiktion immer wieder auf- und, ja, in die Gedanken der Leserin drängt: Wie kann einer so schreiben, ohne das alles selbst ge- oder zumindest erlebt zu haben? Die Leserin jedenfalls lebt mehr als 200 Seiten lang in Lynns Welt, lernt Texte und Dichter lieben, die es – in diesem Universum – wahrscheinlich nicht gibt und wünscht sich bis zum Ende immer wieder, ganz hinüberzutauchen. Auch wenn‘s bestimmt weh tut.
Timo Brandt: Oder die Löwengrube, Roman, Graz: edition keiper 2025, 208 Seiten
Der Roman ist hier erhältlich.






