Collage von Ypsilon bis Zett
„Ich habe gerade jemanden aus 187 Metern mit der Pumpgun gekillt“, spricht der Sohn per Kopfhörer und Mikrofon in Richtung eines Kameraden, Ziel: alle töten und als einziger übrigbleiben. Seit den Lockdowns ist er ganz besessen davon.
Und jetzt ist auch noch Krieg. Seine Altersgenossen in der Ukraine, in Russland stehen an den Waffen und töten die Hoffnung auf Frieden. Sie töten ihre Jugend. Der Sohn tötet nur die Figuren im Computerspiel. Und er informiert sich über die Bundeswehr, über die militärische Lage. Er erklärt mir die Welt.
Er gehört nicht ganz zur Generation Y wie seine Schwestern, die ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nicht zehn Stunden am Tag für die Uni lernen. Der Sohn chillt gern. Nach Y müsste Z kommen. Z wie zufrieden. Z wie zündeln. Z wie zustechen. Der Ursprung des Buchstabens ist das Symbol Ze, das eine Stichwaffe symbolisiert, lese ich bei Wikipedia.
Auf der Demo gegen den Krieg erklingt Imagine, es ist zum Weinen. John Lennon wurde erschossen, aber im Himmel singt er weiter: Imagine all the people living life in peace, ja-ha, you may say I’m a dreamer but I’m not the only one!
Der Sohn träumt nicht mit. Das sei realitätsfern, sagt er. Findet es okay, wenn ich weiterträume, aber zieht es vor, auf seine Art realitätsfern, Ordnung im Universum der Einsen und Nullen zu schaffen, während in seinem Zimmer, ganz real, das Chaos wächst.
Auch ich räume auf. Auch ich will tödlich effektiv sein, produktiv, und endlich alles unangreifbar richtig machen. Mein ganzes Leben in Ordnung bringen. Aber ich ahne, dass ich dazu tot sein müsste, also lasse ich es nicht zu weit kommen. Mein Aufräumen ergibt eher eine Collage, ein Häufchen hier, eines dort, wer weiß, wozu diese oder jene Unordnung noch gut ist.
Bevor ich morgens losmuss, stelle ich den Wecker dem Sohn ins Zimmer, damit er nicht zu tief wieder einschläft, denn auch er muss früh los. „Ganz ruhig, Mama“, sagt er, als wäre er 70 und ich zehn. Er macht ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten, aber danach will er vielleicht zur Armee.
Manchmal kifft er auch. Sein größtes Hobby neben dem Sport und dem Zocken ist Schlafen.
Am Wochenende, wenn er kein Sportturnier hat, bleibt er im Bett, bis ihm die Lippen platzen vor Trockenheit. Abends geht er zum Handball-Training oder ins Fitnessstudio, danach trinkt er Eiweißshakes. Seine Muskeln präsentiert er stolz zum Abendbrot, „Fühl mal“, das Kinn ist ganz kantig geworden. Am Wochenende frühstückt er nachmittags, scrollt seine Kontakte durch, den Kopfhörer auf dem Kopf, und zeigt wenig Lust, ein Gespräch zu führen. Wozu sollte das gut sein, ein Gespräch?
Aber auch das wird sich ändern, wie sich alles ändert, mitunter ändert sich die ganze Welt, die gesamte Sicherheitsarchitektur klappt von einem Tag auf den andern in sich zusammen, in den Köpfen und an den Grenzen. Sie nennen es ZEITENWENDE und baden voller Relevanz in dem neuen Begriff. Politiker sitzen sich an meterlangen Tischen gegenüber, dass sie sich anbrüllen müssen. Seitdem redet der Sohn wieder. Krieg fasziniert ihn – und stößt ihn ab. Er ist plötzlich erwachsen geworden, von einem Tag auf den andern, mitten in der Pandemie. Er ist direkt, aber tolerant. Seine Meinungen sind eher liberal. Er will Mann sein dürfen, ohne ein strukturell rassistisches sexistisches weißes Arschloch zu sein. Doch auf seinen Schultern liegt, ob er will oder nicht, der Kolonialismus, der Erste Weltkrieg, die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, der Mauerfall, die deutsche Schuld, die deutsche Schuldabwehr, die deutsche Friedenswut, dann noch die Pandemie und jetzt der Krieg in Europa. Das trägt sich nicht so leicht, aber er trainiert täglich, seine Schultern sind breit geworden, er ist ziemlich stark.
Die vollständige Version des Textes finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Hefts.