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Heft 36

Erschienen in Heft 36/37, ordinär
(Doppelnummer 36/37)
Ressort: Rezensionen

Nadia Rungger:
Das Blatt mit den Lösungen. Erzählungen und Gedichte.

rezensiert von Nina Köstl

Die Besonderheiten der alltäglichen Dinge

Nadia Runggers „Das Blatt mit den Lösungen“ – ein überzeugendes Debut.

In ihrem 2020 erschienen Buch Das Blatt mit den Lösungen entführt Nadia Rungger ihre Leserinnen und Leser in eine spannende und lebensnahe Welt der Kurzgeschichten und Gedichte. Die 21-jährige Südtirolerin bringt dabei neben deutschsprachigen Gedichten immer wieder auch ladinischsprachige ein. Runggers Erzählungen zeichnen sich durch starke, teilweise auch bizarre
Charaktere aus. Sie taucht tief ein in scheinbar alltägliche Situationen und leuchtet das Leben der Menschen genauer aus, etwa wenn sie aus der Perspektive einer Kellnerin über das Sich-Finden und das darauffolgende Auseinanderleben eines jungen Paares schreibt oder wie es dazu kommt, dass ein gestohlenes Fahrrad zu einer Gemeinsamkeit zwischen einer österreichischen Professorin und einem Jungen aus Bosnien wird oder wie ein Zugunglück das Leben eines Taxifahrers für immer verändert. Alle Erzählungen zeichnet die gute Beobachtungsgabe der Autorin aus, ihr Blick für Details sowie ihre Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzufühlen. Themen wie Kontrollverlust, der Umgang mit schwierigen Lebenssituationen wie dem Tod geliebter Menschen, ständige Veränderungen und auch Gegensätze wie zum Beispiel Heimat und das Fremde spielen in Runggers Erzählungen eine vorrangige Rolle. Einige Geschichten erwecken den Anschein, als wären sie direkt dem Leben der Autorin entsprungen, indem sie jedoch immer wieder die Erzählperspektiven wechselt, schafft Rungger immer wieder jene Distanz, die offen lässt, was Fiktion ist und was Realität sein könnte.

Durch ihre Erzählungen lenkt Nadia Rungger unsere Aufmerksamkeit auf das Leben von Personen, die uns jeden Tag begegnen, die wir in der Routine des Alltags oft aber gar nicht wahrnehmen. Rungger zieht uns mit ihren Gedankengängen aus der Weltvergessenheit in die Gefühlswelt ihrer vielschichtigen Charaktere. Dabei wirkt keine einzige ihrer Figuren flach oder aufgesetzt. Tatsächlich entsteht während des Lesens das Gefühl, als hätte die Autorin jedes einzelne ihrer „erfundenen“ Leben auch selbst durchlebt. In der Erzählung Gleichzeit Ich verabredet sich ihre Figur auf einen Kaffee mit ihrem jüngeren Ich. Die Schreibweise dieser Erzählung ist experimentell, Rungger verzichtet auf Interpunktion und die Form des Textes erinnert an ein Gedicht. In dieser Kurzgeschichte verweist die Autorin auf kreative Art und Weise auf die ständige Veränderung im Leben und gleichzeitig auch auf die Angst, die mit dieser Veränderung verbunden ist. Durch den analytischen Aufbau der Texte erzeugt Rungger außerdem Spannung. Der Großteil ihrer Texte beginnt mit einem nennenswerten Ereignis. Danach lässt sie die Leserinnen und Leser meist lange im Dunkeln tappen. Erst Stück für Stück löst sich der Schleier aus Unklarheiten auf, was zu einem befriedigenden Gefühl am Ende fast jeder Erzählung führt.

Neben den Erzählungen beinhaltet Das Blatt mit den Lösungen auch Gedichte in einer großen stilistischen Bandbreite, von konventionell bis experimentell. Viele Ellipsen erwecken den Anschein, als wäre etwas noch nicht vollendet, als hätte jemand mitten in einem Gedanken einfach aufgehört weiterzudenken. Im Gedicht Gelbe Linien experimentiert Rungger mit einer Zugansage, indem sie dieselbe Aussage mehrmals wiederholt und dabei jedes Mal andere Wörter auslässt. Nur durch dieses wechselhafte Wegstreichen einzelner Wörter erhält der Text  permanent eine völlig neue Bedeutung. Auffällig ist, dass in vielen von Runggers Erzählungen Züge auftauchen. Man könnte den Zug als Metapher für den ständig kreisenden Gedankenstrom sehen. An jeder Station im Leben verlassen uns eine Reihe von Gedanken, gleichzeitig steigen jedoch auch immer wieder neue zu. Überall sind wir ständig mit Veränderungen konfrontiert und trotzdem fließt das Leben um uns immer weiter. Durch zahlreiche Personifizierungen gelingt es Rungger einfachen Gegenständen mehr Bedeutung zukommen zu lassen. Sie bedankt sich beispielsweise auf amüsante Weise bei einer Balkontür. Es gelingt ihr, humorvoll aus der Selbstverständlichkeit, die wir Alltagsgegenständen gegenüberbringen, auszubrechen. Das Blatt mit den Lösungen gewährt einen tiefen Einblick in unterschiedliche Lebenswelten von Personen, die jeden Tag an uns „vorbeiradeln“ könnten. Wie schon der Titel vermuten lässt, wird im gesamten Werk nach Lösungen gesucht, auch wenn sich genau diese Suche in vielen Geschichten als schwierig erweist. Runggers Werk kennt kein Alter und ist vor allem für Leserinnen und Leser
empfehlenswert, die aus ihrem Alltag ausbrechen und ihr Leben von einem anderen Blickwinkel aus betrachten wollen. Die Kürze der Erzählungen sorgt außerdem für ständige Abwechslung und Überraschung. Insgesamt eine empfehlenswerte Lektüre.

Rezensionen

Buch

Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

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Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

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Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
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Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

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Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

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Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

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Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

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Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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