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Heft 35

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Ressort: Rezensionen

Friedrich Hahn:
Melichar oder Von der Kunst, keinen Roman zu schreiben

rezensiert von Werner Schandor

Musil vs. Barthes 1:0

Wie lange kann man sich davor drücken, eine Buchbesprechung zu schreiben?

In meinem Fall vier Monate. So lange liegt Friedrich Hahns Roman „Melichar oder Von der Kunst, keinen Roman zu schreiben“  schon gelesen auf dem Bücherstapel hinter meinem Schreibtisch. Seine Präsenz erscheint mir von Woche zu Woche  vorwurfsvoller, und von Tag zu Tag kommt mir vor, ich mag immer weniger über das Buch sagen. Dabei kann ich nicht einmal behaupten, dass ich es schlecht finden würde. Es ist nur, dass mich der Roman an den Anfang von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ erinnert. Konkret an die Überschrift des ersten Kapitels: „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“.
Warum ich überhaupt zu „Melichar“ griff: Ich fand die Struktur des Textes spannend. Der Roman besteht aus kurzen Kapiteln bzw. Absätzen, denen jeweils kurze, kursiv gesetzte Notizen vorangestellt sind. Diese sind mit Angaben wie „Schwarzes Notizbuch, Hardcover, A4 liniert, fortlaufend“ überschrieben und sollen Fragmente eines ungeordneten literarischen Nachlasses
darstellen. Unter der genannten Überschrift steht zum Beispiel: „Es sich im Präteritum eingerichtet haben.

Sich vornehmen, nur noch Wörter zu verwenden, die einen nicht alt aussehen lassen. Dann könnte man beinahe über alles abschließend sprechen.“ Der Nachlass stammt von der Titelfigur Melichar, der in der Nachkriegszeit ein Kelleratelier im 3. Wiener Bezirk bewohnt hat. Melichar wurde von seinen Mitmenschen für einen Spinner gehalten. Lediglich ein Bub namens Konrad freundet sich mit dem Mann an und wird von ihm geistig unter die Fittiche genommen: Konrad entwickelt sich unter Melichars Anleitung zum Bücherwurm mit Vorliebe für die Moderne. Arno Schmidt, Franz Michael Felder, Richard Brautigan
zählen zu den Lieblingsautoren des Heranwachsenden. Nach der Matura verliert Konrad den alten Mann aus den Augen, erbt
aber nach dessen Ableben einen Holzkoffer voller Zettel und Notizbücher. Konrad wird Polizeiwachmann, zieht mit der Volksschullehrerin Margot zusammen und träumt insgeheim vom Schriftstellerleben. In weiterer Folge kommt es zur Trennung von Margot, zum Ausscheiden aus dem Polizeidienst wegen heftiger Migräneattacken, zur Frühpensionierung und zur  vorübergehenden Liaison mit der Wirtin Gabriella, in deren Bar „PapperlaPUB“ Dichterlesungen stattfinden. Um den roten Faden von Konrad Schramms Lebensgeschichte, die im Roman ausgerollt wird, knüpfen laufend unzusammenhängende Notizen und Beobachtungen an, die aus dem Nachlass des Kellerdichters stammen, der nie etwas veröffentlicht hat. „Melichar hat, wie mir scheint, seinen Roman nicht geschrieben, er hat ihn gelebt. Seine Notizen waren vielleicht nur der Versuch, das zu ändern“, heißt es einmal im Buch. Und ein paar Seiten später wird Roland Barthes gescheiterter Versuch erwähnt, einen Roman zu
schreiben, woraus der Essay „Vorbereitung des Romans“ entstand. Darin überlegt der Pariser Philosoph, ob aus eingestreuten Textfragmenten vielleicht so etwas wie ein „Realitätskontinuum“ entstehen könne. – Hier also liegt das Schnittmuster für Friedrich Hahns „Melichar“ offen vor uns. Doch Roland Barthes Idee geht nicht auf. Zumindest nicht in „Melichar“. Und das liegt weniger an den Textfragmenten, die Konrads Biografie unterbrechen, als vielmehr am Romanplot, der nicht ganz stimmig ist. Es gibt kleine Fehler, die stören – zum Beispiel will Konrad mit seiner Margot 1973 die gemeinsame Bleibe mit „Billy“-Regalen eingerichtet haben; was unmöglich gehen konnte, denn IKEA kam erst 1977 nach Österreich. Und dann sind da die großen Widersprüche: Kann sein, dass es verkappte Schöngeister bei der Exekutive gibt; nur kann ich mir den gleichmütigen
Konrad, dessen Lesevorlieben einem Unidozenten zur Ehre gereichen würden, beim besten Willen nicht als Polizeiinspektor a. D. vorstellen. Und auch die Titelfigur Melichar, die man anfangs für die Hauptfigur halten konnte, verschwindet im Lauf des Textes sang- und klanglos in der Versenkung. „Melichar“ ist dennoch kein schlechtes Buch. Nur bleibt beim sich selbst genügenden intellektuellen Plauderton, der Handlungsführung und Figurenzeichnung durchwirkt, der angestrebte Formwille des Buches in letzter Konsequenz auf der Strecke.

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