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Heft 35

Erschienen in Heft 35, bitte wenden
Ressort: Rezensionen

Tanya Tagaq:
Eisfuchs

rezensiert von Lisa Spalt

Nur nichts verpassen!

Tanya Tagaqs Eisfuchs sagt Ja zum Leben.

Eigentlich könnte dieses Buch deprimierend sein: ein langweiliges Kaff im Eis, vernachlässigte Kinder, die sich vor ihren betrunkenen Eltern und anderen Verwandten im Schrank verstecken, um nicht geschlagen oder missbraucht zu werden, das Leben im Internat, in dem ebenfalls Missbrauch, Missachtung und Verachtung an der Tagesordnung sind, wir lesen von
Bruchbuden und Müll: Die Umwelt scheint den Kindern und Jugendlichen, die hier im Norden Kanadas, ganz am Rand des Eismeers, aufwachsen, nicht gerade freundlich gesinnt zu sein. Und auch die Natur ist eine, die bei aller  Schönheit ständig mit Lebensgefährlichkeit droht. Wer so aufwächst, kennt die Ingredienzien für ein verpfuschtes Leben und den frühzeitigen Tod. Und dennoch schafft es Tanya Tagaq in Eisfuchs, einen Charakter im Widerstand gegen die Umstände zu beschreiben, einen, der gerade an der Rauheit, am Gegenwind, wächst. Sie schafft es, eine Persönlichkeit in den Lesenden zu beschwören, die gegen die Trostlosigkeit die Oberhand gewinnt und einen mitreißenden Hauch Magie verströmt. Nicht umsonst bildet das Zitat von Kierkegaard, nach dem die Leiden der Schreibenden in der Literatur Musik werden, sodass die Zuhörenden ihre Beschreibung ertragen können, das Motto des Buches. Doch dazu gleich. Zunächst sind es banale Dinge – Comics und Lego, die die  Protagonistin, noch Kind, als Tröstung beschwört. Dann wird es gerade die Natur, die inmitten von beängstigenden Erlebnissen
wilde Erfahrungen anbietet. Und die Natur, das ist auch der Körper. Das Mädchen, später die Jugendliche, suspendiert die Gefahr durch das sinnliche Spiel mit Lemmingen, die sie in die Taschen steckt, die Molche, die sie in ihrem Mund wimmeln lässt, erzählt von freundlich gesinnten Wölfen und blickt gebannt dem Eisfuchs ins Auge, der zunächst vor allem ein weiterer
Widerpart zum Üben der psychischen Muskeln ist, etwas, das man sich anverwandeln muss. Die Jacken flattern im eisigen Wind, die Kinder wagen sich auf improvisierten Flößen aufs Wasser, begeben sich mit wachem Bewusstsein in Lebensgefahr, aber eben: mehr Leben, viel Körper, Mimik, Gestik, Geräusche, Gewalt, pubertäre Zuneigung, von Lyrik unterbrochene oder
vielmehr in songhafte Lyrik ausbrechende Prosapassagen, wenn allzu deutliches Aussprechen den Willen zu überleben schwächen könnte. „Aber wer sagt eigentlich, dass das Universum nur in den Menschen lebendig ist?“, heißt es in einem Klammerausdruck, der in der Folge immer wichtiger wird. Langsam entdeckt die Jugendliche eine andere Welt, raucht Marijuana, schnüffelt Klebstoff, erlebt die ersten Visionen, entdeckt eine Verbündete, eine alte Frau, die sich in der traditionellen
Medizin und in den Mythen auskennt. Ein erster Junge wird angehimmelt. Dann sind da auch schon die Polarlichter, eine taghelle Nacht, die junge Frau verschmilzt mit dem arktischen Wasser, mit den Farben: „Jeder hat den dringenden Verdacht,
dass ihm etwas Wichtiges auf der Welt fehlt, aber ich habe den Schlüssel“, sagt die Erzählerin, und: „Unser Fleisch steckt voller Geheimnisse“. Die Erkenntnis lautet: „Wir müssen feiern, dass wir ins Geschirr unseres Körpers eingespannt sind.“ – Diese
unbedingte Bejahung von allem, was das Leben ausmacht, dieses starke Gefühl, dass nur diese Bejahung bleibt, wenn eine ihr Leben nicht verpassen will, ist das, was dieses Buch so elektrisierend macht. Die Zeit geht durch die Protagonistin, durch dieses Buch hindurch. „Die Zeit gehorcht nicht der Uhr. Zeit gehorcht den Gesetzen der Physik genau wie alles Stoffliche, aber sie kann auch Kontrolle über die Materie ausüben. Zeit ist Materie. Zeit ist lebendig. Zeit ist wachsam. Zeit hat Gewicht. Zeit verbündet sich mit der Schwerkraft, um dich zurück in die Erde zu befördern. Wir reisen nicht durch die Zeit – die Zeit reist durch uns und treibt uns an.“ Atemlos ist die Sprache Tagaq’s, die keine Scheu vor gar nichts hat und diese materielle Zeit keinen Augenblick vergessen lässt, die sich nicht damit aufhält, irgendetwas zu bedauern, und in der die Zeit – eben – raue Musik wird. Eine  irgendwie einfache und umso besser treffende Rede ist ein sausender Schlitten, ein pelziger Augenblick. Gerade durch die  Einstellung, die den Phänomenen gegenüber genauso eingenommen wird wie gegenüber dem Sprechen, entsteht ein Sound, der dem, der Tanya Tagaq sonst auszeichnet, nicht unähnlich ist. Denn eines klingt durch diesen Text immer durch: Die Autorin kommt von der Musik, sie widmet sich in ihrem anderen Leben dem Throat-Gesang der Inuk, den sie zu außergewöhnlichen
Solo-Performances umfunktioniert und im Improvisieren neu belebt. Findet diese Musik im großen Netz! Ansonsten: Lesen und im Lesen hören. Zeit erleben.

Rezensionen

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Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
rezensiert von Hermann Götz

Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

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loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

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Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
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Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

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Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

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Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

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Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

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Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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