x
Anfrage senden

Heft 44

Erschienen in Heft 44, nachgefragt
Ressort: Feuilleton

Sharing all the world

Katharina Körting

Collage von Ypsilon bis Zett

„Ich habe gerade jemanden aus 187 Metern mit der Pumpgun gekillt“, spricht der Sohn per Kopfhörer und Mikrofon in Richtung eines Kameraden, Ziel: alle töten und als einziger übrigbleiben. Seit den Lockdowns ist er ganz besessen davon.

Und jetzt ist auch noch Krieg. Seine Altersgenossen in der Ukraine, in Russland stehen an den Waffen und töten die Hoffnung auf Frieden. Sie töten ihre Jugend. Der Sohn tötet nur die Figuren im Computerspiel. Und er informiert sich über die Bundeswehr, über die militärische Lage. Er erklärt mir die Welt.

Er gehört nicht ganz zur Generation Y wie seine Schwestern, die ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nicht zehn Stunden am Tag für die Uni lernen. Der Sohn chillt gern. Nach Y müsste Z kommen. Z wie zufrieden. Z wie zündeln. Z wie zustechen. Der Ursprung des Buchstabens ist das Symbol Ze, das eine Stichwaffe symbolisiert, lese ich bei Wikipedia.

Auf der Demo gegen den Krieg erklingt Imagine, es ist zum Weinen. John Lennon wurde erschossen, aber im Himmel singt er weiter: Imagine all the people living life in peace, ja-ha, you may say I’m a dreamer but I’m not the only one!

Der Sohn träumt nicht mit.
Das sei realitätsfern, sagt er. Findet es okay, wenn ich weiterträume, aber zieht es vor, auf seine Art realitätsfern, Ordnung im Universum der Einsen und Nullen zu schaffen, während in seinem Zimmer, ganz real, das Chaos wächst.

Auch ich räume auf. Auch ich will tödlich effektiv sein, produktiv, und endlich alles unangreifbar richtig machen. Mein ganzes Leben in Ordnung bringen. Aber ich ahne, dass ich dazu tot sein müsste, also lasse ich es nicht zu weit kommen. Mein Aufräumen ergibt eher eine Collage, ein Häufchen hier, eines dort, wer weiß, wozu diese oder jene Unordnung noch gut ist.

Bevor ich morgens losmuss, stelle ich den Wecker dem Sohn ins Zimmer, damit er nicht zu tief wieder einschläft, denn auch er muss früh los. „Ganz ruhig, Mama“, sagt er, als wäre er 70 und ich zehn. Er macht ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten, aber danach will er vielleicht zur Armee.
Manchmal kifft er auch. Sein größtes Hobby neben dem Sport und dem Zocken ist Schlafen.

Am Wochenende, wenn er kein Sportturnier hat, bleibt er im Bett, bis ihm die Lippen platzen vor Trockenheit. Abends geht er zum Handball-Training oder ins Fitnessstudio, danach trinkt er Eiweißshakes. Seine Muskeln präsentiert er stolz zum Abendbrot, „Fühl mal“, das Kinn ist ganz kantig geworden.  Am Wochenende frühstückt er nachmittags, scrollt seine Kontakte durch, den Kopfhörer auf dem Kopf, und zeigt wenig Lust, ein Gespräch zu führen. Wozu sollte das gut sein, ein Gespräch?

Aber auch das wird sich ändern, wie sich alles ändert, mitunter ändert sich die ganze Welt, die gesamte Sicherheitsarchitektur klappt von einem Tag auf den andern in sich zusammen, in den Köpfen und an den Grenzen. Sie nennen es ZEITENWENDE und baden voller Relevanz in dem neuen Begriff. Politiker sitzen sich an meterlangen Tischen gegenüber, dass sie sich anbrüllen müssen. Seitdem redet der Sohn wieder. Krieg fasziniert ihn – und stößt ihn ab. Er ist plötzlich erwachsen geworden, von einem Tag auf den andern, mitten in der Pandemie. Er ist direkt, aber tolerant. Seine Meinungen sind eher liberal. Er will Mann sein dürfen, ohne ein strukturell rassistisches sexistisches weißes Arschloch zu sein. Doch auf seinen Schultern liegt, ob er will oder nicht, der Kolonialismus, der Erste Weltkrieg, die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, der Mauerfall, die deutsche Schuld, die deutsche Schuldabwehr, die deutsche Friedenswut, dann noch die Pandemie und jetzt der Krieg in Europa. Das trägt sich nicht so leicht, aber er trainiert täglich, seine Schultern sind breit geworden, er ist ziemlich stark.

 

Die vollständige Version des Textes finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Hefts.

Haben Sie Fragen oder möchten Sie ein Heft erwerben? Anfrage senden

Hefte

Heft 45: kinderleicht

Bullerbü und Berlin, Hogwarts und Pisa. Zwischen diesen (und noch vielen weiteren) Polen auf der literarischen und gesellschaftlichen Landkarte muss sich Kinder- und Jugendliteratur heute verorten. Die Erwartungshaltungen sind deutlich

Heft 44: nachgefragt

Diesmal machen wirs andersrum. Wird eine klassische schreibkraft-Ausgabe einem konkreten, zumeist dialektischen Thema gewidmet, an dem sich die Weisheit der Vielen abarbeiten darf, fragen wir in Heft 44 zu vielen

Heft 43: über musik

Robert Zimmermann kann nicht gut singen. Mundharmonika und Gitarre spielt er auch nicht soooo toll. Aus diesem Grund hat er auch den Literaturnobelpreis bekommen. Und nicht den Polar-Music- oder den

Heft 42: über literatur

Nein nein nein! Die schreibkraft ist keine Literaturzeitschrift. Davon gibt es eh genug. Insbesondere in Graz, der Hauptstadt hoffnungsfroher Manuskripte und nach Publikation und Perspektive lechzender Poesie, der Lichtungen im

Heft 41: wir sind lesenswert

Sie halten Heft 41 der schreibkraft in Händen. Dieses Heft ist zugleich die erste Ausgabe in der Geschichte der „schreibkraft“, die ausschließlich literarische Texte beinhaltet, denn diese Ausgabe ist ganz

Heft 40: verstörend

Es ist schon erstaunlich (und verstörend zugleich), wie lange der Mensch bereits auf Erden existiert, wie viele Jahrtausende er es geschafft hat, dieser Erde keine allzu großen Probleme zu bereiten

Heft 38: aus der welt (Doppelnummer 38/39)

„Immer dort wo Du bist bin ich nie.“ Eleganter als in diesen Zeilen, die Sven Regener für seine Band Element of Crime in anderem Kontext getextet hat, könnte man die

Heft 36: ordinär
(Doppelnummer 36/37)

Das Zauberwort pandemischer Tage heißt „Normalität“. Eben noch, also vor der Corona-Phase, das gering geschätzte Synonym für Fadheit par excellence, avanciert erlebte Norm neuerdings zum Sehnsuchtszustand. Für viele ist sie

    Anfrage

    Möchten Sie ein Heft bestellen?
    Bitte geben Sie die Heft-Nr. und Ihre Adresse an:

    Ihre Kontaktdaten werden zum Zweck der Kontaktaufnahme im Rahmen dieser Anfrage gespeichert. Mit dem Absenden dieses Formulars stimmen Sie dieser Verwendung zu. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.