Vom Vesuv ist nichts zu sehen
Es ist der letzte Tag des Jahres. Vom Vesuv ist nichts zu sehen, nicht in Ercolano, nicht nach dem Aufstieg zum Kraterrand. Der Grund des Kraters versteckt sich im suppigen Grau des Nebels, der sich oft in dieser Höhe festsetzt. Sechs Kilometer darunter brodelt flüssiges Magma, das geht einem nicht in den Kopf. Auch nicht, wie es überhaupt sein kann, dass es Vulkane gibt, natürliche Phänomene, ganz ohne Zutun des Menschen. Vulkane sind da wie Meteoriten.
[Flechten]
Aus dem Nebel leuchten gelbgrüne Moose und die grauen Kräuselteppiche der Vesuv-Korallenflechte, die so heißt, weil ihre Thalli an die aufsteigenden Rauchfahnen aktiver Vulkane erinnern. Stereocaulon vesuvianum stellt wie die meisten Flechten eine Lebensgemeinschaft aus Pilz und Alge dar. Sobald die Lava nach einem Ausbruch erkaltet, kolonialisieren diese Flechten den Boden, zersetzen ihn mit Säuren, danach haben es Farne und Gräser, Sträucher, Bäume leichter. Sah so die Landschaft aus, als Pflanzen und Pilze vor 450 oder 500 Millionen Jahren das Festland eroberten? Der letzte Vesuv-Ausbruch ist nicht lange her, der Folgebewuchs noch karg. 1944 war das und damals mussten 12.000 Menschen evakuiert werden, 26 wurden getötet und heiße Asche und Geröll zerstörten achtzig B-25-Mitchell-Bomber der US Air Force, die eigentlich Nazis in Messina oder am Brenner jagen sollten.
Ein Hauch von faulen Eiern weht einem um die Nase, während man sich durch die Nebelsuppe entlang des Kraters tastet. Ab und zu tauchen Gruppen von Touristen auf, ein Souvenirstand, an dem es Lacryma-Christi-Flaschen, Lava-Aschenbecher, schwarze Totenschädel und heiße Pizza gibt, es ist sehr still. Einmal reißt kurz die Wolkendecke auf, in unerhörter Tiefe öffnet sich der Golf von Neapel.
Goethe findet ähnliche Bedingungen vor, als er am 2. März 1787 erstmals den Vesuv besteigt. Trübes Wetter, umwölkter Gipfel, Moos, vermerkt er in der Italienischen Reise. Am 6. März steigt er erneut auf, der Berg donnert und schleudert Steine in die Luft. Goethe lässt sich dennoch von zwei Führern bis zum Krater schleppen und vermerkt: „Der Anblick war weder unterrichtend noch erfreulich, aber eben deswegen, weil man nichts sah, verweilte man, um etwas herauszusehen.“ Ob das bei klarer Sicht anders ist? Man ist versucht, den Vesuv als Metapher zu lesen, als konkrete Naturerscheinung ist er zu ungeheuerlich. Ist auch Goethes Satz metaphorisch zu lesen? Was ist herauszusehen, wenn man in die Nebelsuppe der Gegenwart schaut? Beim dritten Aufstieg bekommt der Dichter den „Höllenbrudel“ des Vesuvs dann doch noch zu spüren: Die Lava strömt, der Berg dampft, Goethes Sinne verwirren sich. „Das Schreckliche zum Schönen, das Schöne zum Schrecklichen …“ Am Ende empfindet er überraschend Gleichgültigkeit.
Es ist an diesem Tag am Vesuv nichts zu sehen. Man will länger bleiben, noch einmal über den Rand des Kraters in den Nebel starren. Schaut etwas zurück? Moose, Flechten, Schwefel. Es ist der letzte Tag des Jahres. Es war das heißeste Jahr, seit gemessen wird. Das nächste wird heißer werden. Die Vesuv-Korallenflechte lässt das kalt, ihr genügt ein wenig Feuchtigkeit. Man wird am Vesuv an Evolution und Auslöschung, an Anfänge und Enden erinnert.
Irgendwann, vielleicht erst in Zehntausenden von Jahren, werden die Erdbebenschwärme, die dieses Jahr über die Phlegräischen Felder jagten, das riesige Vulkanfeld westlich von Neapel, die Küste, den Kontinent in Feuer tauchen. Irgendwann wird der Vesuv wieder Lava spucken. Wie damals, als Pompeji und Herculaneum in pyroklastischen Strömen untergingen. Was lauert da in der Tiefe der Zeit? Was kommt? Ein Weltenbrand? Burnout? Man muss kein Romantiker sein, um am Vesuv das Außen ins Innen zu lassen, das Innen aufs Außen zu projizieren. Es passiert nichts an diesem Tag. Vielleicht reißt es noch einmal auf?
Die vollständige Version des Textes finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Hefts.