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Heft 44

Erschienen in Heft 44, nachgefragt
Ressort: Feuilleton

Die Sakralisierung des Trivialen

Wolfgang Pollanz

Über das Sakrosankte und das Blasphemische

Um das Sakrosankte und seine Wirkungsweisen soll es in dieser kleinen Abhandlung zum Thema gehen. Nun, das Wort kennt man, man verwendet es wohl von Zeit zu Zeit, auch wenn es in den Bedeutungszusammenhängen des aktuellen öffentlichen Diskurses nur mehr selten vorkommt und seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Denn, seien wir ehrlich, was ist heute noch per definitionem „höchst heilig, geheiligt oder verehrt“ oder gar „unantastbar“? Selbsternannte Volkstribune vom Schlage [bitte hier entsprechenden Namen einsetzen], Unterhaltungsmogulinnen à la Taylor Swift, vorgebliche Zivilisationsmotore und Profiteure wie der unselige Elon Musk? „Ford bewahre!“, wie es in Schöne neue Welt von Aldous Huxley heißt, möchte man da ausrufen oder wie man vielleicht, wenn alles sich so entfaltet, wie es sich zurzeit ankündigt, einmal in wahrscheinlich gar nicht so vielen Jahrzehnten sagen wird, „Musk bewahre!“. Nein, heute ist niemandem mehr zwingend etwas heilig, nichts ist völlig unantastbar, alles kann in Frage gestellt werden, die Vorstellung des Sakrosankten ist ein Konzept aus anderen Jahrhunderten, die geistigen, moralischen und vor allem legistischen Schranken, die ursprünglich aus der geforderten Unverletzlichkeit von Personen eines gewissen Standes innerhalb des Gemeinwesens entstanden sind, haben sich aufgelöst, sind nicht mehr vorhanden, sind überkommen und nur mehr althergebrachtes Vorgestriges. So scheint es zumindest prima vista. Oder ist es vielleicht doch ganz anders, muss man die Sichtweisen, die den Begriff des Sakrosankten definieren, vielleicht erneuern, den heutigen Umständen anpassen, frisch bewerten, neu und anders denken?

Das Wort selbst, der kleine Diskurs sei mir hier gestattet, ist ein Kompositum aus sacer und sanctus, beide Wörter haben etwa dieselbe Bedeutung, heilig, geweiht, ehrwürdig, wobei das Adjektiv sacer aber auch das Gegenteil bedeuten konnte, nämlich verflucht, verwünscht, einer Gottheit zur Vernichtung geweiht. Sacrosanctitas meinte also im alten Rom die vollkommene Unantastbarkeit von Orten, etwa von Tempeln oder heiligen Hainen, von geheiligten Objekten oder auch von Personen. Zunächst galten insbesondere die plebejischen Volkstribune als unantastbar. Personen, die gegen diese Praxis verstießen, wurden verflucht, sacer esto!, hieß die Formel dazu, und wurde sie gegen jemanden öffentlich ausgesprochen, hieß dies, er hatte seine Bürger- und Menschenrechte verwirkt, wer ihn tötete, erfüllte damit eine heilige Pflicht und blieb dafür unbestraft. Was ursprünglich nur für die Volkstribune galt, wurde später auch auf die Kaiser übertragen, Augustus wurde 36. v. Chr. als sacrosanctus erklärt, der Begriff war in den Jahrhunderten danach einem stetigen Bedeutungswandel unterzogen, erst durch die Christianisierung erhielt er schließlich seine heutige Bedeutung der Hochheiligkeit.

Der Begriff, der im Nachdenken über das Sakrosankte und sein Antonym ‚Blasphemie‘ aber weitaus relevanter ist, ist jener der Sakralisierung. Denn wenn etwas, das eigentlich per se profan ist, zu etwas Sakrosanktem erklärt werden soll, zu etwas, das quasi unantastbar ist, muss es zunächst einmal überhaupt erst sakralisiert werden, einen Status erlangen, der eo ipso, also aus sich selbst heraus, in der jeweils gültigen Interpretation einer Sozietät über das Alltägliche, das Triviale hinausweist. Erst dagegen kann man eine Blasphemie begehen, in der
ursprünglichen Bedeutung eigentlich eine Gotteslästerung, wie sie heute noch in einigen christlichen und vor allem muslimischen Staaten verboten und strafbar ist, auch wenn etwa in Österreich im Strafgesetzbuch ‚nur‘ von „Herabwürdigung religiöser Lehren“ die Rede ist.

 

Die vollständige Version des Textes finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Hefts.

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