Ich stehe an einem Brunnen. Das alte Gemäuer reicht mir bis zur Hüfte, ein Ring aus sonnengebleichtem Stein. Er wirkt so verloren inmitten des Marktplatzes wie ein einsamer Baumstumpf auf einer weiten Lichtung. Sein Rand ist ganz glatt von den zahllosen Berührungen der Menschen, die in die Tiefen seines Schlundes spähten. Ein eisernes Gitter trennt die Oberwelt vom Abgrund, eine Schutzvorkehrung, da der Brunnen seinen ursprünglichen Zweck schon lange verloren hat. Was bleibt, ist eine Erinnerung, ein Denkmal. Mein Blick wandert durch die Maschen des Gitters und folgt den Strahlen der Sonne, die in den Schatten des Abgrunds stochern und Einblicke in die verborgene Welt am Grund des Brunnens gewähren. Der Schacht ist kaum tief genug, um diesem Bild gerecht zu werden, aber dennoch scheint mir die Tiefe abgeschnitten vom Rest des Seins, unerreichbar, ein Ort, gebunden an seine Grenzen. Wie bei einer Schneekugel oder der Welt im Inneren einer Seifenblase.
Seichtes Wasser spiegelt in dieser Brunnenwelt das Blau des Himmels. An den Rändern sprießen Farne, die mit ihren Blättern die Innenwände ertasten und die Bahnen der Fugen und Risse nachzeichnen, die sich über Jahrhunderte in den Stein gegraben haben. Dunkles Moos gedeiht in der Feuchtigkeit, erklimmt die schartigen Grenzen und nascht vom Widerhall der Klänge, die durch die Stille tanzen. Das Plätschern von Tau, der von Grashalmen tropft. Die kaum hörbaren Flügelschläge geisterhafter Tierchen in der Leere. Mein Atem, der die Kleeblätter zum Rascheln bringt. Unscheinbare Laute, so bedeutungsschwer im endlichen Kreis des Brunnens.
Zwischen Kieselsteinen im Wasser schimmern Münzen, deren goldene und silberne Blicke auf einem Treibholzsplitter ruhen, der aus ihrer Mitte ragt. Darauf kauert bewegungslos ein kleiner grüner Frosch. Seine Augen sind starr nach oben gerichtet, hinauf zu mir, und ich frage mich: Was sieht er? Treffen sich unsere Blicke? Oder bin ich nur eine vorüberziehende Erscheinung, ein wiederkehrendes Phänomen, das nach dem tausendsten Mal keine Bedeutung mehr trägt? Betrachtet er einfach nur das Blau des Himmels? Träumt er vom Ozean? Was weiß der Frosch von der Welt außerhalb des Brunnens?
Die vollständige Version des Textes finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Hefts.