oder: Keine besonderen Vorkommnisse
Am Anfang war das Fleisch, und das Fleisch war bei den Menschen, und das Fleisch war Mensch. Alles fing mit dem Fleisch an, in ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Götter. Es trat ein Mensch auf, der den Göttern gesandt war; sein Name war Johannes. Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn vom Glauben kommen. Allen, die ihn aufnahmen, nahm er die Macht, Götter zu bleiben. Alle, die ihm glaubten, wurden wiedergeboren aus dem Blut, aus dem Willen des Fleisches, aus dem Willen der Frauen, nicht mehr länger als Gott geboren. Und das Fleisch ist Wort geworden und hat unter ihnen gelebt, und wir haben seine Verletzlichkeit gesehen und seine Schwäche, des einzigen Sohnes von einem Vater. Ohne Gnade und Wahrheit.
Prof. Etting ließ das Heft sinken, sie schob sich die Lesebrille in die Stirn und runzelte sie, um dem Kollegen den passenden Blick zuwerfen zu können. „Seit wann ist denn Herr Johann in Ihrer Abteilung?“ „Seit Christi Himmelfahrt“, nuschelte Mayer mit Butterkeksen im Mund, „keine Ahnung, wann das genau war, er sagts halt dauernd so.“ Etting überflog die Patientenakte, „F62.9“ stand da, Eingeständnis diagnostischer Hilflosigkeit. „Seh ich das richtig, der Mann behauptet, ich zitiere, eingeborener Sohn irgendeines Vaters, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, zu sein, aber schon nachdem sie heilig war, als einzig wahrer Mensch …“ „… unter lauter Göttern, ja“, unterbrach Mayer, sich weiter durch die Kekspackung fräsend. Etting sah hinüber in den Aufenthaltsraum, direkt in die wässrigen Augen des wahren Menschen. Herr Johann lächelte sie an, als habe er lange geduldig auf ihre
Aufmerksamkeit gewartet. Sie las weiter in seiner psychiatrischen Biographie. Er war blind, seit ihn beim Wandern im Höllengebirge der Blitz getroffen hatte. Keine besonderen Hinweise auf Selbst- oder Fremdgefährdung. Keine Anzeichen einer spezifischen Persönlichkeitsstörung, keine abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle. Mayer zündete sich noch mit vollem Keksmund eine Zigarette an und stand auf, auch er sah nun dem Patienten in die Augen. „Es ist nicht so, dass er einen besonderen Leidensdruck hätte, er wird nur dauernd hereingebracht, weil er überall Ansprachen hält, Predigten. Die Pfarrer sind schon ganz enerviert, und Herr Johannes hat keine feststellbare Wohnadresse. Wir behalten ihn ein paar Tage zur Beobachtung, er ist freundlich und kooperativ, eigentlich o. B., dann entlassen wir ihn wieder, er sagt ‚Auf Wiedersehen!‘ und steht fünf, sechs Tage später wieder da, gestern hat er mir sogar extra die Kekserl mitgebracht, die teuren von Leibniz, er sagte sowas wie ‚die besten aller möglichen Keks‘ …“ „Gut,“ unterbrach ihn Etting, „ich sehe hier noch kein großes Problem, aber …“ „Es ist diese Häufung, verstehen Sie?“ Mayer war ernst geworden. „Wenn Herr Johannes so dahinerzählt, wie ihn die eine Hälfte der Götter zu Lebzeiten verehrt hatte wie einen der ihren, die anderen ihn aber zu einem grausamen Tod verurteilten und er jetzt eben im nächsten Leben einmal Mensch unter Menschen sei, bevors dann wieder von vorne anfange, das ist ja unterhaltsam. Aber schauen Sie einmal.“ Er reicht ihr einen Packen anderer Patientenakten. „Da: Der ist vor drei Wochen gekommen, weil er glaubt, er sei der Teufel. Wir haben ihn milde sediert, seither kein Ärger mit ihm. Bis der da kommt“, er hebt eine neue Akte an, „der glaubt, er sei Jesus Christus – und noch bevor der noch wissen kann, dass da der Teufel auf dem Sofa ratzt, rennt der Christus schon hin und versetzt ihm ansatzlos einen Kinnhaken.“
Die vollständige Version des Textes finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Hefts.