Beim Spazierengehen höre ich eine Mutter mit ihrem Kind reden. Er müsse schon üben, meint die Mutter, das Fahrrad fahre sich ja nicht von selbst. „Es will schon von dir gefahren werden“, betont die Mutter gegenüber dem schweigsamen Kind. „Willst du noch mal üben heute Abend mit Papa?“ Ein nicht wirklich überzeugendes „Mh“ des Kindes aus dem Buggy. „Das geht nicht, dass du einfach eines Tages auf das Fahrrad steigst und fahren kannst. Da musst du kräftig üben.“
Üben, üben, denke ich, während ich meine Schritte beschleunige. Ich will das nicht hören. Weil das nämlich überhaupt nicht stimmt. Aber man muss die Mutter entschuldigen. Hier wirkt das Konzept unserer Gesellschaft, der bürgerliche Leistungsgedanke wurde nicht von dieser Mutter erfunden. Sie ist nur das Symptom einer Krankheit, die überall existiert und vor der auch Philosophen nicht gefeit sind. Sloterdijks Du musst dein Leben ändern instrumentalisierte sogar ein Gedicht von Rilke, um den schönen blauen zu einem „Planet der Übenden“ zu machen. Alle Ethik ist bei Sloterdijk eine Art Übung und ein Leben in Akrobatik und Artistik. Aber Üben ist nicht die Ursache, sondern die Folge von Leistung. Man sollte das Ei, bevor man es kocht, nicht zerschlagen.
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