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Heft 36

Erschienen in Heft 36/37, ordinär
(Doppelnummer 36/37)
Ressort: Feuilleton

Von der Vulgarität der Empörungskultur

Alexander Estis

Ein Aufschrei gegen den Aufschrei.

Es liegt kein besonderes Verdienst darin, politisch zu sein; fast alle Menschen sind politisch, auch und zumal die banalsten und dümmsten, ja sogar Politiker sind manchmal politisch. Auch wenn wir das mittlerweile wissen könnten, erschallen doch von überall her, von links wie von rechts, die trivialpolitischen Selbstoffenbarungen penetranter denn je und fordern in ihrem dumpfen Dröhnen aus unerfindlichen Gründen bewundernde Anerkennung, nicht bloß unbekümmert darum, feineren Ohren den Garaus zu machen, sondern in dem entschiedenen Willen, alle Stimmen anderer Tonlagen zu übertönen, mitunter wohl aber auch mit dem kaum bewussten Ziel, die letzten Reste eigener innerer Polyphonien unhörbar zu machen.

Meisterstück und zugleich vulgärste Äußerungsart dieser selbstdarstellerischen und autoaffirmativen Erregungskultur ist die von moralisch unfehlbaren Kreuzritterimitatoren bühnenreif ins Werk gesetzte verbale Hyperventilation in oktroyanten Empörungstiraden, kulminierend in einem argumentativ inartikulierten Aufschrei (womit nicht der Hashtag und die damit verbundene Diskussion gemeint sind), dessen Prämie einer scheinbar paradoxalen Logik folgt: je stärker der pseudoalert-alarmistische Lärm, desto ruhiger der Schlaf des Gerechten. Je schroffer das Kreischen, desto gewisser die Verbundenheit der Peers. Je betroffener die Opferrhetorik, desto legitimer der Machtanspruch. Um nicht missverstanden zu werden: Das Recht auf  Empörung ist fundamental – so fundamental, dass man um seinetwillen gern auf andere Rechte verzichten möchte, nur um sich anschließend über deren Verlust empören zu können. Ich empöre mich für mein Leben gern, ob über derart bestürzungswürdige Erscheinungen wie närrische Tyrannen, findige Fundamentalisten und plumpe Populisten, Verschwörungstheorien, Religionskriege oder die Absurdität aller menschlichen Existenz, ob über so marginale wie das Hamburger Schietwetter, Eselsohren in bibliothekarisch erworbenen Büchern, die veränderte Form des Netzwerksymbols
im neuesten Update von Windows 10, ja sogar über Richard David Precht.

Allerdings empört mich die Vulgarität solcher Inszenierungen eines narzisstischen Entrüstungstheaters, wie es ihnen mehr als um die wirklichen Hintergründe um das splendide Styling, den gloriosen Auftritt, die wohlfeilen Ovationen zu tun ist. Sie bilden mithin das genaue Gegenteil jener hohen Kunst der distinguierten Indignation, die, einmal provoziert, in ihrem argumentativen Misstrauen den Diskurs der Gegenpartei ins Visier nimmt, ohne zur Ruhe zu kommen, bevor sie ihn aufs Gründlichste seziert hat, und die insofern Ansporn zu raffinierter Kritik, jedoch auch Beweggrund für aufmerksamen Dialog sein kann.

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