Gute Bücher müssen nicht „zeitlos“ sein
Am Anfang war das Buch
Und das Buch wurde gelesen … Halt! Nein, nein, wir werden jetzt nicht gleich religiös, keine Sorge! Davon abgesehen ist es ja ein Sakrileg, damit zu beginnen, dass ein Buch gelesen wird. Natürlich muss es erst einmal geschrieben werden. Aber seien wir doch ehrlich: Mal abgesehen von dem ganzen kreationistischen Salbungsduktus eines solchen Satzes: Ist ein Anfang mit „Das Buch wurde gelesen“ nicht viel sympathischer und sozialer, als zu sagen „Und das Buch wurde geschrieben“? Das würde doch gleich wieder zu einem monotheistischen Literatenanspruch führen. Und der kann erfahrungsgemäß nur mit narzisstischen, marktschreierischen und aufmerksamkeitsökonomischen Voraussetzungen erhoben werden … Wer möchte das schon?
Lasst uns vielfältiger sein, flexibler, demokratischer und letztlich auch individueller! Nicht umsonst hat sich in zeitgenössischen Diskursen über Kanonisierung von Kunst und Literatur in den letzten Jahren immer häufiger die Frage nach der Repräsentanz gestellt. Diese Frage, wer spricht bzw. wer die Möglichkeit zu sprechen bekommt, hat nicht erst seit der MeToo-Bewegung und den Identitätsdebatten einen anhaltenden Streit ausgelöst und uns offenbart, wie viele Missstände in Bezug auf Gleichstellung und Minderheitenrechte in unserer Kultur, die wir doch als so fortschrittlich und auch als moralisch integer empfinden, vorhanden sind. In diesen Repräsentationsdebatten geht es zunächst einmal noch gar nicht um Inhalte (auch nicht um literarische Qualitäten oder sonst etwas qualitativ Vages, bei dem auch immer gefragt werden muss: Wer stellt denn fest, was literarische Qualität ist? und vor allem: Welche Argumente werden dabei ins Feld geführt?). Dabei wären die Inhalte der publizierten Bücher doch auch durchaus interessant, im Prinzip also die ganze Bandbreite: Wer schreibt was, wie und warum?
In der immer unübersichtlicher werdenden Publikationslandschaft im deutschsprachigen Raum ist das in ihrer Breite eine schwierig zu beantwortende Frage. Die über allem schwebende Hoffnung ist, dass, solange es genug unabhängige Verlage gibt, solange genug Menschen Bücher schreiben dürfen, solange der Zugang zu Büchern, zum Lesen und zum Schreiben niedrig und einfach gehalten wird, es auch in dieser Hinsicht zu einer gewissen Vielfalt kommen möge. Staatliche bzw. kulturpolitische Lenkungsmechanismen wie der Deutsche Verlagspreis oder die österreichische Verlagsförderung (zumindest ihrer Intention nach) versuchen, dieser Hoffnung Substanz zu verleihen. Dennoch ist und bleibt es auch die Aufgabe der Verlage, dieser Vielfalt in ihrer Programmgestaltung Raum zu geben und sie aktiv herzustellen. Das bezieht sich nicht nur auf zeitgenössische Literatur, Essayistik, Sachbücher usw., sondern auch auf die Bücher und Texte vergangener Epochen.
Abseits des bürgerlichen Kanons finden sich Schätze
In vielen unterschiedlichen Zeiten hat es schon Verteidigungskämpfe des Bürgertums um ‚sein‘ Medium Buch gegeben, nicht nur heute gegenüber dem Feminismus und in den Identitätsdiskursen. Wir wissen, dass sich die Gesellschaften und Epochen verändern und konservative Milieus immer wieder auch Einfluss verlieren. Vor allem geschieht das vor oder nach Epochenumbrüchen, beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg ebenso wie mit der Durchsetzung der Digitalisierung (und des Trash-TVs) in den 1990er-Jahren sowie gegenwärtig im Backlash der Globalisierung und des Hyperkapitalismus. Welche Rolle in den kommenden Jahren die KI dabei spielen wird, kann zudem nur erahnt werden.
In der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hatte die Sozialdemokratie stark an Bedeutung gewonnen. Ihre Errungenschaften für die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen waren einhergegangen mit dem Willen, diese mit Intellektuellen und Künstler:innen zusammenzubringen, um gemeinsam wachsendes Verständnis füreinander, steigende Bildung und volkskörperliche Intelligenz und Resilienz zu fördern. Die Künstler:innen und Intellektuellen der Anfangsjahre, die sich mit der aufkommenden Neuen Sachlichkeit mit sozialkritischen Themen auseinandersetzten, kamen zumeist noch aus bürgerlicher Sozialisierung, wie Arthur Schnitzler, Ödön von Horvath, Egon Erwin Kisch oder Vicki Baum (Makkaroni in der Dämmerung, 2018, herausgegeben von Veronika Hofeneder). Aber nach und nach fanden sich auch Autor:innen aus dem Arbeiter:innenmilieu, die mit wachsendem Selbstbewusstsein zu ihrer Sprache fanden.
Abseits der gängigen bürgerlichen Publikationsstrukturen, die schon während der Zeit des Expressionismus kurz zuvor ein wenig durcheinandergeraten waren, waren es vor allem die Tageszeitungen der Ersten Republik wie die Arbeiter-Zeitung, die Neue Freie Presse, das Neue Wiener Tagblatt, das Neue Wiener Journal u. a., die – meist schon seit dem 19. Jahrhundert – in der Blütezeit des Tagesjournalismus Feuilletonromane in Fortsetzungen druckten. (Die Arbeiter-Zeitung druckte auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch Romane in Fortsetzung ab.) Die meisten dieser sehr unterschiedlichen Texte erschienen allerdings nie in Buchform und wurden mit ein paar wenigen Ausnahmen von der bürgerlichen Literaturkritik ignoriert (Joseph Roths Das Spinnennetz erschien vom 7.Oktober bis zum 6.November 1923 in der Arbeiter-Zeitung. Die erste Buchausgabe gab es postum 1967. Abgedruckt ist der Text auch in: Joseph Roth, Nacht und Hoffnungslichter, 2014, herausgegeben von Alexander Kluy.).
In der Zeit des Roten Wien (1919–1935) konnte man neben den Büchern von Stefan Zweig (1881–1942) auch Titel von Else Feldmann (1884–1942) oder Stefan Großmann (1875–1935) lesen. Viele der dezidiert nichtbürgerlichen Autor:innen finden sich im Umfeld der Arbeiter-Zeitung, aber nicht ausschließlich. Hans Weinhengst (1904– 1945) beispielsweise publizierte seinen Arbeiter:innenroman Turmstraße 4 1934 auf Esperanto. 2017 wurde der Roman von Christian Cimpa erstmals ins Deutsche übersetzt und von Kurt Lhotzky herausgegeben. Es ist ein Zeitzeugnis, das uns sehr nahe an das Leben der Arbeiter:innen während der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre führt, bis hinein in die Wohnstuben und Arbeitsplätze. Mit ebensolcher Nähe und Herzenswärme schrieb Else Feldmann ihre Romane, Theaterstücke und Sozialreportagen. Feldmann ist eine der vielseitigsten und spannendsten Chronist:innen ihrer Zeit, denn um die Zwischenkriegszeit und ihre Folgen zu verstehen, muss man die sozialen Umstände kennen. Stefan Zweigs Pazifismus ist eine lebens- und lobenswerte Geisteshaltung in einer Welt voller Nationalismen und Kriegstreiberei, aber um zu verstehen, woraus sich die großen Verwerfungen dieser Zeit gespeist haben, muss man die sozialen Umstände kennen, die flächendeckende Armut, das Elend, die Krankheiten – und den Kontrast des Reichtums, der Gier und Empathielosigkeit auf der anderen Seite. Über all das schrieb Else Feldmann oft atemberaubende Texte (Flüchtiges Glück, 2018 erstmals als Buch gesammelte Sozialreportagen und Erzählungen, herausgegeben von Adolf Opel). Von der bürgerlichen Kritik blieb sie belächelt. „Ihr Herz ist noch zu weich“, urteilte man bspw. im Tagblatt. „Ein paar gut gesehene Figuren“, konstatierte Arthur Schnitzler nach dem Besuch von Feldmanns Theaterstück Der Schrei, den niemand hört am 24. März 1916 im Wiener Volkstheater. Auch antisemitischen Ressentiments waren Feldmann und ihr Werk ausgesetzt, obwohl sie in ihren Texten später offensichtliche jüdische Themen aussparte, was in der Folge auch eine Vorgabe der Arbeiter-Zeitung war, die ab den beginnenden 1920er-Jahren fast alle ihrer Texte druckte.
Mit deren Verbot 1934 durch die Austrofaschisten wurde sie ihrer Publikationsmöglichkeit beraubt, 1942 wurde Else Feldmann von den Nazis in Sobibor ermordet. Erst in den 1990er-Jahren wurden ihre Texte von Adolf Opel wiederentdeckt, und ihre Romane Löwenzahn, Der Leib der Mutter und Martha und Antonia konnten im Frauenverlag (heute Milena Verlag) wiederaufgelegt werden.
Ignoriert wurden in der Nachkriegszeit auch die zahllosen Exilautor:innen, die aus Österreich entweder schon ab 1934 oder ab 1938 geflüchtet waren. Die Gründe dafür sind vielfältig, letztlich aber auch ziemlich eindeutig: Evelyne Polt-Heinzl schreibt in ihrem Buch Die Grauen Jahre. Literatur nach 1945 – Mythen, Legenden, Lügen (Sonderzahl 2018): „Dass der österreichische Kulturbetrieb nach 1945 fast sofort wieder von jenen Personen dominiert wurde, die schon im Austrofaschismus und/oder Nationalsozialismus aktiv waren, prägte die Optik der Literaturgeschichtsschreibung nachhaltig. […] Weder die zeitgenössischen LeserInnen noch die Gatekeeper des Literaturbetriebs waren an Romanen über die jüngste Vergangenheit besonders interessiert. Sie erzielten bei Erscheinen allenfalls Achtungserfolge und warten oft bis heute auf eine Neulektüre.“
Für diese „Achtungserfolge“ gab es Ende der 1940er- bis Anfang der 1950er-Jahre eine kurze Phase, die noch etwas durchlässiger war für kritischere Literatur. So konnte beispielsweise Friederike Manner unter dem Pseudonym Martha Florian ihren stark autobiografischen Roman Die dunklen Jahre im Wiener Verlag veröffentlichen (1948), Ilsa Barea und Oskar Jan-Tauschinski veröffentlichten in der Arbeiter-Zeitung in Fortsetzungen ihre Romane Telefónica (1949) und Talmi (1952). Die erste Buchausgabe von Talmi gab es immerhin 1963 beim Kreisselmeier Verlag in München. Der Roman Telefónica von Ilsa Barea, der so einzigartig von den Erlebnissen einer Österreicherin im Spanischen Bürgerkrieg erzählt, ist erst 2019 zum ersten Mal überhaupt in der Edition Atelier als Buch erschienen (hg. von Georg Pichler) und war dann gleich sowohl in der Presse als auch bei den Leser:innen immens erfolgreich, genauso wie Die dunklen Jahre von Friederike Manner, ebenfalls 2019. Für Evelyne Polt-Heinzl, die die meisten dieser literarischen Schätze schon vor allen anderen gehoben und auf sie hingewiesen hat, waren Die dunklen Jahre sowie Hans Flesch-Brunningens Perlen und schwarze Tränen (1948, 2020) und Martina Wieds Das Krähennest (1951, 2021) die drei herausragenden österreichischen Exilromane des 20. Jahrhunderts. Alle drei hat sie neu herausgegeben. Aber kein einziger dieser drei hatte in der problematischen Konstellation des Kulturbetriebs in der österreichischen Nachkriegszeit wesentliche Beachtung gefunden. Ein Schicksal, das viele der Exilschriftsteller:innen, unter anderem auch Paul Engel (Diego Viga: Die Unpolitischen, 1969, 2022, hg. von Erich Hackl) teilten. Jedes dieser angeführten Bücher hätte es verdient, im Kanon der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu stehen, und jeder dieser Titel ist aus unserer heutigen Perspektive heraus noch aktuell, denn auch heute stehen wir immer noch mit offenen Fragen und ebenso offenen Mündern vor den großen Menschheitsthemen Armut, Flucht und Migration, Krieg und Unterdrückung.
Aber ‚Zeitlosigkeit‘ hat noch niemand erreicht
Die zutiefst bürgerliche Bewertung von Literatur, gute Bücher müssten ‚zeitlos‘ sein, ist ein Unterdrückungsmechanismus, der von den einen bewusst, von vielen anderen aber wohl weitestgehend ahnungslos weiterverbreitet wird. Dabei gilt es schon längst, mit diesem Klischee einmal aufzuräumen. Dass der Begriff ‚zeitlos‘ natürlich falsch ist, weiß eigentlich jede:r, der oder die ihn bewusst verwendet. Eigentlich gemeint ist, dass ein Text eine gewisse Überzeitlichkeit besitzen müsse, um große Themen der Menschheit und ihre spezifischen literarischen Perspektiven darauf durch die Zeit zu transportieren, um auch für uns heute noch relevant zu sein. Der Begriff ‚zeitlos‘ wird dabei als egensatz zum Zeitgeistigen verwendet, der Denk- und Fühlweise einer Epoche oder einer Dekade, teilweise äquivalent verwendet als modisch, launenhaft, vorübergehend oder irrelevant. Als Beispiel für ‚zeitlose‘ Literatur wird gerne Shakespeare angeführt, selbstverständlich auch Goethe, Schiller usw. Doch alle diese Texte sind ebenso zeitgebunden entstanden wie unsere heutige Literatur, der diese Aspekte zum Vorwurf gemacht werden, oder die Literatur des 20. Jahrhunderts. Welche Themen nun als ‚zeitlos‘ subsumiert werden, ist oft recht einfach. Es sind vor allem solche Themen, die das Bürgertum mit seinem Wertekanon in Verbindung bringt: die Korrumpierbarkeit der Macht des Adels, den es als gesellschaftlich prägende Schicht abgelöst hat, Moral, Bildung, Ästhetik, Leistung, Gerechtigkeit usw. Wenn wir uns heute bürgerliches Leben und bürgerliche Ideale anschauen, erkennen wir leider häufig nicht viel von diesen grundlegenden Werten wieder. Im Gegenteil: Moralische Fragen werden als Gutmenschentum verleumdet, Gerechtigkeit ist vielen mittlerweile ein Dorn im Auge oder hat sich zur Selbstgerechtigkeit verwandelt. In der Bildung herrscht ein Klassendünkel, der sich eher rückschrittlich geriert als fortschrittlich. Und die Macht, die im Bürgertum lange Zeit als zwiespältig und ambivalent betrachtet wurde, ist längst geprägt von Sesselklebrigkeit entgegen jedem Anstand und jeder Raison.
Wenn sich diese Werte also schon heute so oft in ihr Gegenteil gekehrt haben, was ist dann an ihnen ‚zeitlos‘? Die Tatsache, dass ja auch aus diesem Grund damals diese Bücher geschrieben wurden? Aber werden denn diese Fragestellungen im bürgerlichen Kontext heute überhaupt noch verhandelt? Nein, im Gegenteil! Belege dafür entnehmen Sie bitte der Tagespresse. Und wir reden hier nicht über Einzelfälle, sondern über systemische Problematiken.
Und welche Rechtfertigung gibt es auf der literarischen Ebene, sich mit der Begründung ‚zeitlos‘ an dem eigenen Kanon festzuklammern, während man sozialkritischer Literatur, feministischer oder identitätspolitischer Literatur, denen es eigentlich genau um die ursprünglichen Themen geht, Menschenrechte, Moral, Gerechtigkeit, Machthinterfragung usw., kategorisch jede Qualitätszuschreibung abspricht? Viel ehrlicher wäre es zu sagen: „Ich verstehe euer Problem, aber das ist unser bürgerlicher Literaturkanon, den wir bewahren wollen und müssen, weil er grundlegende Ideen unserer demokratischen Gesellschaftsordnung beschreibt, weil er die Entwicklung und freie Entfaltung des Individuums historisch nachzuzeichnen vermag …“ Doch mit einer solchen Erklärung würde man den eigenen Absolutheitsanspruch verlieren („Am Anfang war das Buch. Und das Buch wurde geschrieben!“). Man würde zugestehen müssen, dass es sich um soziologische Zuschreibungen handelt, neben denen es noch andere Bewertungen geben kann, und das muss natürlich unter allen Umständen vermieden werden. Der Begriff ‚Zeitlosigkeit‘ hat dabei in irgendeiner skurril-propagandahaften Weise funktioniert. Ich weiß bis heute nicht, warum.
Transport der Perspektiven durch die Zeit
Viel sinnvoller ist es, nachdem wir ohnehin den Begriff ‚Kanon‘ in den letzten Jahren mit Skepsis betrachtet und aus der Literaturvermittlung herausgenommen haben, zu konstatieren, dass es auch hier den Absolutheitsanspruch zu überwinden gilt. Wir müssen es vielmehr zum Prinzip erheben, ‚Kanon‘ multiperspektivisch, demokratisch und zielgruppenorientiert immer wieder neu zu denken, neu zu kommunizieren und zu vermitteln. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass wir aus lauter Vorsicht gar nichts mehr kanonisieren („Habe ich als mittelalter weißer Mann mit Migrationshintergrund auch genug Diversität berücksichtigt?“). Auch hier sollte das Gegenteil der Fall sein: Wenn uns Literatur als solche wichtig ist und ihre gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Funktion oder ihre Bildungsaspekte, ihr ästhetischer, künstlerischer Genusswert usw., dann sollten wir kanonisieren, was das Zeug hält, hinterfragen, aussortieren (Der Begriff ‚canceln‘ ist ebenso rechte Propaganda für einen Prozess, der seit Jahrhunderten immer wieder das Gleiche macht!) und neu ordnen, zusammenfügen, clustern und diskutieren. Lasst uns dabei doch grundsätzlich mal die Begriffe ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ aussortieren. Wir wollen ja überzeugen und nicht recht haben! Das sollte bei zeitgenössischer Literatur ebenso sein wie bei älterer. Auch hier sollte sich die Frage stellen: Welche Texte sind aus unserer heutigen Perspektive aus welchen Gründen interessant, lehrreich, sinnvoll usw.? Natürlich: Manchmal sind das vorübergehende Themen wie bei Felix Dörmanns Inflationsroman Jazz (1925, 2023, hg. von Alexander Kluy), auch wenn man dabei natürlich trotzdem Grundlegendes über Inflation und die Hyperinflation in den 1920er-Jahren erfährt, verpackt in eine echte Pageturner-Geschichte. Wie man diese Thematik heute aus dem Lauf der Zeit betrachtet und wie man sie mit der Gegenwart und sich selbst in Verbindung setzt, sei allen selbst überlassen, denn wir sind doch alle ‚mündige Leser:innen‘, oder nicht?
Mündig ist der Bürger immer nur selber
Und mit diesem schönen provokanten Satz springen wir direkt zum Thema ‚editorische Standards‘ und zu der Frage, was ein Verlag bzw. ein:e Herausgeber:in bei einem alten Text edieren soll oder darf. Tatsächlich gibt es hier zwei widerstreitende Interessen: das historisch-kritische Interesse und das rezeptionsorientierte Interesse. Für eine historisch-kritische Betrachtung dürfte an einem Text kein dreifacher Gedankenstrich, kein Beistrichfehler und natürlich erst recht kein Rassismus gestrichen werden. Dabei sind historisch-kritische Leser:innen mit ihrem berechtigten wissenschaftlichen Interesse desaströs in der Unterzahl. Sie werden jedoch vehement verfochten von der selbst ernannten wertkonservativen Bildungselite, die wutschäumend den Untergang des Abendlands beschwört, sofern sie auch nur einen einzigen ihrer rassistischen Wohlfühlbegriffe aus einem Text verschwunden wähnt. Auf den Gedanken, einfach eine Erstausgabe des Textes über ein Antiquariat zu beziehen, kommen diese Herrschaften meistens nicht. Und das hat natürlich mit Narzissmus zu tun bzw. mit der Frage, inwiefern irgendein pensionierter Herr abseits seiner politischen Wählerstimme immer noch Einfluss auf seine Facebookblase nehmen kann. Gemäßigtere Leser:innen fragen auch gern nach der schon erwähnten Mündigkeit, d. h. übersetzt: „Wir können schon alles so stehen lassen, die Leute sind ja klug genug, das selbst einzuordnen.“ Und das ist tatsächlich fast noch schlimmer, als einfach nur auf seinem rassistischen Alltagsthron hocken bleiben zu wollen, denn es ist fast ebenso narzisstisch, aber noch einmal wesentlich ignoranter. Und es entlarvt im Grunde eine größere Dummheit, denn um solch ein Argument aus der Tasche zu zaubern, muss man schon sehr in seinem Elfenbeinturm gefangen sein und so gar nichts von der Welt um uns herum mitbekommen.
Mit einer rezeptionsorientierten Editionsarbeit (Wir können alles immer nur aus unserer heutigen Perspektive betrachten und verstehen!) haben wir im Verlag wesentlich bessere Erfahrungen gemacht, gerade aus der Sicht der Literaturvermittlung. Selbstverständlich arbeiten wir dabei im Konsens mit unseren Herausgeber:innen höchst sorgfältig und wie auch im Lektorat für zeitgenössische Literatur mit der Maxime: So wenig wie möglich, so viel wie nötig! Und das betrifft ganz selbstverständlich auch die Zugänglichkeit eines Textes. „Am Abende vor der Untergange“ gehört natürlich korrigiert, ebenso wie Gedankenstrich- und Interpunktionskaskaden gemäßigt werden. Und, das sei auch mal provokant in den Raum gestellt: Wir überarbeiten das im Sinn der Autorin und des Autors. Auch der N-Begriff, damals häufig Common Sense, wird heute anders gelesen und verstanden, und er steht der Rezeption eines Textes im Weg, vor allem bei wiederholter Verwendung! Ganz ähnlich wie bei einem Theaterbesuch ein dauerschnarchender oder -hustender Herr in der Reihe vor einem: Es gehört vielleicht zum Erlebnis des Abends, aber welchen Sinn macht es, wenn ich dem Stück dadurch nicht mehr folgen kann oder will? Beim Roman Die Unpolitischen von Diego Viga hat uns ein Rezensent, nachdem er mich im Verlag angerufen und gefragt hatte, wer denn für die Überarbeitungen im Roman zuständig gewesen sei, öffentlich vorgeworfen, dass wir gemeinsam mit dem Herausgeber Erich Hackl den in der DDR-Ausgabe von 1969 verwendeten Begriff „Indianer“ für die südamerikanischen Ureinwohner durch „Indios“ ersetzt hätten. Gnädigsterweise gab er in der Rezension später sogar zu, dass „Indio“ unter Umständen der möglicherweise richtigere Begriff sei, aber es würde doch mit diesen Änderungen bedauerlicherweise sehr viel Zeitkolorit verloren gehen! So viel zur Mündigkeit des Bürgers und zum Thema „Zeitlosigkeit“.
Über die Arbeit mit Herausgeber:innen
Als Verlag sind wir natürlich angewiesen auf die Leidenschaft, die Kenntnisse, die Eloquenz und die Multiplikationsfähigkeiten unserer Herausgeber:innen. Ohne sie wäre eine solche Arbeit in der Programmgestaltung über so viele Jahre gar nicht möglich und wir profitieren als Verlag enorm von ihren Entdeckungen und ihrer Expertise. Natürlich schafft es nicht jedes Buch, seinen Weg zurück in den erneuerten Kanon der Literatur des 20. Jahrhunderts zu nehmen, aber das liegt in der Natur der Dinge und der Aufmerksamkeitsmechanismen. Dennoch stellt jedes einzelne Buch für uns eine Bereicherung dar, auch und gerade wegen der Nachworte, Hintergrundinformationen und -geschichten, bei deren Tiefe und Eloquenz es uns manchmal vorkommt, als hätten wir die jeweilige Autorin oder den Autor selbst noch kennengelernt. So sollte Literatur sein. … und das Buch wurde gelesen!