Was wäre, wenn wir nur noch Sprache hätten, aber keine Welt mehr, auf die sie sich bezieht?
Blättert jemand energisch in einer Zeitung, hört sich das ein wenig so an wie die knatternden Schläge von Taubenflügeln. Die Frequenz Letzterer ist allerdings höher, auch wenn man bei der Lektüre schon mal in Rage geraten kann. Oder in Panik. Die Spitzschopftaube (Ocyphaps lophotes) erzeugt beim hektischen Auffliegen mit der achten ihrer zehn Schwungfedern einen schrillen Warnlaut, der ihre Artgenossinnen alarmiert. Auch im Feuilleton, so scheint es, flattern die Begriffe herum wie ein aufgescheuchter Taubenschwarm. Alles schwingt sich gleichzeitig zum geflügelten Wort auf, und niemand versteht mehr sein eigenes. Die Stadttaube stammt von verwilderten Haus- und Brieftauben ab, die wiederum aus Felsentauben (Columba livia) gezüchtet wurden. Erst domestiziert, dann ihren Besitzern entfleucht, aber ein Kulturfolger und bisweilen arg zerfleddert, ähnlich steht es um unsere Begriffe. Sie kacken uns auf den Kopf, als wären wir nur noch Denkmäler unserer selbst, in Hochmut erstarrt. Nehmen wir nur den Begriff der Freiheit. Jeder befürwortet sie im Allgemeinen, aber trippelt sie gurrend über den Fenstersims, wird sofort der Kammerjäger gerufen. Die Taube sitzt inzwischen auf dem Dach. Oder im Baum. Er verästelt und verzweigt sich. So stellt man sich mitunter eine ernsthafte Diskussion vor: in immer feineren Differenzierungen verlaufend. Als einen Baum der Erkenntnis. Manch Feuilletonisten, von welcher Schlange auch immer umzüngelt, gelüstet es nach den lockenden Früchten.
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