In der Chemie gibts das ja auch.
Vor einigen Monaten wurde ein schmaler Gleisübergang in der Nähe des Westbahnhofs zum Hotspot des Grätzels. Man traf sich, um bei Knabberzeug und Dosenbier gemeinsam den Sonnenuntergang zu erleben. Alles WG-Mitwohnerinnern, versteht sich. Die sind ja so naiv, haben manche im Vorbeigehen gesagt, froh, dass sie auf Cruising Areas im Allgemeinen gut verzichten konnten. Und für Verzicht gibts Gesundheit. Kein Virus, keine Feigwarzen oder sonst irgendetwas Grausliches. Außer dem Cholesterin ein rundum pipifeiner Status. Ist ja nicht so, dass es diese Elga-Gesundheitsakte dafür gebraucht hätte, gibt man kleinlaut zu.
Das ist fast wie beim Brexit. Noch gestern tanzt Brüssel auf der Nase herum, schon heute ist ein Mundschutz die kleinste Kleingartensiedlung der Welt. Nur die coolen Kids gehen ohne, schreiben sich Boomer Remover aufs Shirt. Während andere zuhause auf einer Skala sitzen und sich den Anschein geben. Keine Sorge, sagen sie zu den älteren Verwandten am Telefon, 10 kommt nicht vor.
Die coolen Kids lachen. Als gäbs 10. Total überschätzt. Chill mal deine Basis, raten sie dir, und stopp die Erderwärmung. Jetzt. Und die, die auf dem Gleisübergang sitzen und der Sonne beim Verschwinden zuschauen, resümieren: Frei ist der Himmel nicht und frei sind wir nicht unbedingt. Hinter uns liegt der Bahnhof, den kennt man schon von 2015. Und man erinnert sich, aber gibt zu, es mache keinen Sinn, eine Krise gegen eine andere auszuspielen. Und überhaupt: Sag nicht dauernd Krise! Und die Einsamen sagen den Händchen haltenden und Luft schnappenden Pärchen beim Vorbeigehen: Können Sie bitte Abstand halten! Und der Mann ruft: Hören S’, ich schlaf mit meiner Frau schon seit 20 Jahren in einem Bett. Und die Einsamen antworten: Aber das weiß ja das Virus nicht!
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