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Heft 36

Erschienen in Heft 36/37, ordinär
Ressort: Editorial

ordinär, extra!

ordinär

Das Zauberwort pandemischer Tage heißt „Normalität“. Eben noch, also vor der Corona-Phase, das gering geschätzte Synonym für Fadheit par excellence, avanciert erlebte Norm neuerdings zum Sehnsuchtszustand. Für viele ist sie gar die zentrale Erlösungsperspektive für die Zeit nach COVID-19. Aber wieso? War sie so gut? Oder war sie zumindest besser als das, was mittlerweile als „Neue Normalität“ bezeichnet und mit Franziska Bauers Worten wie folgt zusammengefasst werden kann: „In Krisenzeiten droht der Wahnsinn überhaupt zur Normalität zu werden.“

Zunächst einmal ist „normal“ auf alt-neudeutsch eigentlich ein Schimpfwort, in Form gegossen präsentiert es sich ganz „ordinär“. Und was normal ist, definiert die Mehrheit. Normierende Gesellschaftsgruppen grenzen sich im Sprachgebrauch gegenüber einer sozialen Normalität ab, die sie als unterlegen empfinden. „Ordinär war alles, was sich nicht gehörte“, erinnert sich Eleonore Zorn an ihre Kindheit zurück, und „wenn es dann noch um den Umgang der Geschlechter miteinander ging, wurde das Wort schnell abgewandelt in ‚obszön‘“. Die tradierte Distinktionslinie folgt dabei also nicht nur den sozialen Statusgrenzen zwischen arm und reich, sondern zugleich gerne auch jenen zwischen Frau und Mann. Das Ordinäre landet letztlich in einem Eck, das gerade den Bruch der Norm markiert … das ordinär Vulgäre, die niedere Normalität,
wird mit dem Bild des schmutzigen Volks vermengt ganz zum Obszönen: dem Dreck, dem Verwerflichen und dem Verderben zugeordnet. Bleibt auf Abstand, so das postulierte Verhalten der Normierenden. Social Distancing mit negativer Füllung.

Doch auch innerhalb der als „gewöhnlich“ bezeichneten Mehrheitsgesellschaft dient der Begriff zur Abgrenzung, nur andersrum: „Normalität“ ist plötzlich nicht nur positiv besetzt, sondern vielmehr überhaupt Grundlage jedweder Lebensführung: „Um zu funktionieren“, schreibt Mathis Zojer, „müssen wir den ungedeckten Scheck der Normalität als Zahlungsmittel akzeptieren“. Oder eben die Einbauküche, ohne die sich Doris Neidl ein wenig unwohl fühlt, aber – Gott sei Dank – Trost bei Ingeborg Bachmann findet. Dominika Meindl schließlich hat es tatsächlich geschafft, sich diesem Diktat des Gewöhnlichen zu entziehen, indem sie auf radikale Devianz setzte und „einem Polizeihund ins Ohr“ biss, und zwar so fest, „dass ich mir an seinem Chip das Zahnfleisch aufgerissen hatte“. Auf breite Zustimmung ist sie mit dieser Verhaltensweise sicherlich nicht gestoßen – das dürfte im Laufe der Geschichte auch nie deutlich anders gewesen sein. Und doch stellt sich immer wieder die Frage: Wie behandelt die aktuelle Normalität die Normalität von früher? Was machen wir etwa heute mit gewaltverherrlichenden Volksliedtexten, was mit dem „Neger“ in Kinderbüchern oder der „Mohrenstraße“ (die Umbenennungsbestrebungen des konkreten Berliner Straßenzugs nimmt Katharina Körting zum Anlass für ihre Überlegungen) am Stadtplan? Schließlich waren Kolonialismus, Unterdrückung von Frauen und Minderheiten oder Kinderarbeit lange Zeit gesellschaftliche und kulturelle Praxis.
Wie gut schließlich ist unsere aktuelle Normalität für zukünftige Normalitäten gerüstet? Wie kann, wie wird es nach der Pandemie sein? Sollen wir hochfahren, damit alles wieder so wird, wie es war? Oder gibt es tatsächlich Chancen, in eine Phase der „Ganz Neuen Normalität“ einzutreten, die wir vielleicht auch wirklich aktiv gestalten?

Die Redaktion wünscht viel Vergnügen bei der Lektüre!

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