Lenzpassier und Südwindprofiteur
Die historisch belegte Lebensgeschichte des Salzburger Bettlers Jakob Koller bildet die Folie für Birgit Schwaners Erzählung Jackls Mondflug.
Jakob Koller, der Sohn eines Abdeckers verschwand 1675 nach dem Feuertod seiner als Hexe verurteilten Mutter spurlos. Wenig später machten die ersten Gerüchte die Runde: Die Bettlerkinder, die ihn stets begleitet hätten, wendeten, so hieß es, Schadenszauber gegen Zahlungsunwillige an. Eine Serie von Hexenprozessen gegen vazierende Kinder, die zumeist mit Jakob Koller nichts zu tun hatten, war die Folge.
Im Gegensatz zu vielen dieser Unglücklichen entkam der historische Jackl seinen Häschern. Und ums Entkommen geht es unter anderem auch in Schwaners Buch. Hier bekommt der „Zauberer Jackl“ nämlich eine Zwillingsschwester. Und diese Kreation ist ganz vom Machen der Poesie, dem „Poein“ geprägt, das hier durchaus als die Erzeugung von (geistigen) Transportmaschinen gesehen werden kann. Doch der Reihe nach: Nach einigen Kalamitäten wird die Jakobine genannte Zwillingsschwester des Jackl von einem fahrenden Geschäftsmann aufgenommen und entkommt so vorerst dem Bettlerinnenleben, allerdings nicht der traurigen Umwelt, nicht ihrer Zeit. Daher versucht die poetische Schwester, inzwischen Pyrotechnikerin geworden, am Ende des Textes, sich der elenden Gegenwart ganz einfach durch einen Flug zum Mond zu entziehen. Ein entsprechendes Gerät wird gebaut. Und es kommt, wie es kommen muss: Wie in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts nimmt die tatsächliche Konfrontation mit dem „echten Mond“, der so lange die Lyrik durchschwebte, dem Objekt der Begierde allen Glamour. Der romantischen Ironie, die den Text durchzieht, steht plötzlich die handfeste Erkenntnis gegenüber, dass Eichendorff, Novalis, Brentano und Co. die Nacht und den Traum wohl als Ausweg beschwören konnten, dass der symbolisch angebetete Mond sich aber eben am Ende doch als ein Trabant der Erde entpuppt, welcher deren Kalamitäten nur spiegelt. Auch hier ist der Mensch des Menschen Wolf, auch auf dem Mond scheint die Sonne nicht für die Armen.
Das Poein muss sich daher auf einen anderen Sehnsuchtsort richten. Wie er aussehen könnte? Hier bricht der Text ab. Der Ort aber existiert, allerdings auf ganz andere Weise, nämlich als eine überaus reiche Sprache, die Schwaner dem Elend der beschriebenen Armut entgegensetzt.
Ein Feuerwerk an rhetorischen Mitteln wird in dem Buch auf die Lesenden losgelassen, die „Notwendigkeit“ klappt um in die „Todwendigkeit“, die „Nabelschnur“ in den „Nebelschlurf“, die Krähe wird neologistisch zum „Lenzpassier“, zum „Südwindprofiteur“, von Geräuschen und Klängen wird nicht nur gesprochen, die Laute werden lautmalerisch implementiert. Ein eigenwilliger Rhythmus durchzieht das Buch. Jeder Blick, der konstruiert wird, wird gleich wieder als Bild weitergesponnen – ja, das Schindergestänge könnte doch auch ein Pferdchen sein, ein stilisierter Mensch, …
Listen und Assoziationsketten werden gesponnen und wieder gelöscht, weil sie aus der Zeit des Jackl in unsere Gegenwart entgleisen. Oder Schwaner beschreibt die Vergangenheit einfach anhand der Aufzählung dessen, was fehlt, und wendet das Manko spielerisch, um ein überbordend besticktes Innenleben des dünnen Mantels zum Vorschein zu bringen. Die bessere Welt erträumen nämlich die, die unter der schlechten leiden. Und so durchziehen Wortkaskaden, Echos den Text, und ganz nebenbei spickt Schwaner ihn noch mit ihrem üppigen kulturhistorischen Wissen. Wir verlassen diesen Raum voller Vexierspiegel daher trotz der nahezu ausweglosen Armut der Protagonisten mit einem Gefühl, in einem Reichtum anderer Art gebadet zu haben.