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Heft 32

Erschienen in Heft 32, durchlesen
Ressort: Rezensionen

Gertraud Klemm:
Erbsenzählen

rezensiert von Heimo Mürzl

Stieftussi und Waldhonigstimme

Gertraud Klemms Roman Erbsenzählen widmet sich den Seltsamkeiten moderner Paarbeziehungen aus weiblicher Sicht.

Die gebürtige Wienerin Gertraud Klemm sieht sich selbst in der Nachfolge von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. Mit schonungslosem Blick und scharfzüngig-bissigem Stil beobachtet, durchleuchtet und beschreibt sie die Herausforderungen und Probleme moderner Frauenleben, reflektiert über die Einbettung in ökonomische Zusammenhänge und Abhängigkeiten und analysiert die Versklavung durch Erwerbsleben und Patriarchat. Die Beschäftigung mit weiblichen Lebensentwürfen stand auch schon in ihren Romanen Herzmilch, Aberland und Muttergehäuse im Zentrum des Erzählgeschehens. Mittlerweile zählt Gertraud Klemm mit ihren unerbittlich-präzisen Büchern hierzulande zu den profiliertesten Chronistinnen moderner weiblicher Lebensläufe.

Klemms Bücher funktionieren in erster Linie als Romane mit einer explizit feministischen Botschaft und sollen auch als solche gelesen und verstanden werden. Seelisch Versehrte sind aber alle, – die Frauen, die Männer und die Kinder in den Büchern von Gertraud Klemm. Klemm konterkariert und unterminiert die Verzweiflung ihrer Romanfiguren aber stets mit den Mitteln der Komik und Ironie und umschifft so die Gefahr, gut gemeinte Agitation in Romanform zu betreiben. In ihrem neuen Roman Erbsenzählen sucht und findet Klemm einen neuen Ansatz für ihre feministische Prosa. Nicht Hausfrauen und Mütter verfangen sich im Netz von Mutterschaft, Geschlechterkampf, patriarchalischer Unterdrückung und ökonomischen Abhängigkeiten, sondern aufgeschlossene, selbstbewusste und feministisch sozialisierte junge Frauen wie die noch nicht dreißigjährige Annika verirren sich im Lebensentwurf-Dschungel zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Kunst und Lebenskunst und Lässig- und Fahrlässigkeit. Dem Roman ist ein Zitat einer der derzeit prominentesten (Vor-)Denkerinnen der westlichen Welt – Laurie Penny – vorangestellt: „There is a princess in all our heads: she must be destroyed.“ Karriere,  Kinder, Ehe und Eigenheim sind für Annika nicht mehr als sinnbefreite Statussymbole und überflüssige Belanglosigkeiten. Wie will ich leben und lieben und wie kann ich das in einer von Regeln, Konventionen und tradierten Normen geprägten Welt tun? Was ist  bedingungslose Freiheit und wie ist die zu erreichen? Und ist ein selbstbestimmtes und glückliches Leben überhaupt realisierbar? Diese Fragen stellt sich die Protagonistin Annika in Gertraud Klemms Roman Erbsenzählen.

Geplatzte Illusion
Annika, gelernte Physiotherapeutin mit abgebrochenem Kunstgeschichte-Studium, ist der Überzeugung, dass Beziehungen mehr und mehr zu „profanen Werkzeugen des  Kapitalismus“ verkommen sind und das „Erbsenzählen“ – was habe ich schon erreicht und was kann ich den anderen präsentieren – zu sehr im Vordergrund steht. Die Soll- und Habenseite werden öfter verglichen, als dass emotionale Defizite und der Verlust von Gefühlen thematisiert werden. Annikas Kampf mit den Schranken und Grenzen der neoliberalen Leistungs- und Wertegesellschaft wird nicht leichter, als sie sich in einen Mann verliebt, der doppelt so alt ist wie sie. Alfred, der Kulturradioredakteur und Moderator mit der Waldhonigstimme, ist achtundfünfzig Jahre alt und ihr gemeinsames Leben lässt sich zwar gut an und scheint ein gelungener Gegenentwurf zur konventionellen Paarbeziehung zu sein. Erste Risse in der glanzvollen Alternativ-Fassade tun sich auf, als Alfreds Sohn Elias – der Annika hinter ihrem Rücken respektlos als „Stieftussi“ bezeichnet – die junge Frau in die Rolle der Ersatzmutter drängt und aus der Zweierbeziehung eine moderne Patchwork-Familie wird. Aus der Zweisamkeit ohne Verbindlichkeiten, aber mit viel Gefühl und großer Zuneigung, guter Sexualität, gegenseitigem Respekt und viel Lebensfreude und guter Laune wird Schritt für Schritt Alltag und Routine und der alternative Lebensentwurf verkehrt sich in sein Gegenteil. Umso mehr, als Alfred einen „leichten Vorderwandinfarkt“ erleidet und Annika mit Irritation und Erstaunen zur Kenntnis nehmen muss, dass Alfreds geschiedene Frau Valerie in dieser Ausnahmesituation als „Vertraute“ wieder einen wichtigen Platz in Alfreds Leben einnimmt.

Gertraud Klemm treibt das Spiel mit enttäuschten Erwartungshaltungen und den Seltsamkeiten moderner (Paar-)Beziehungen auf die Spitze. Annika muss mit der Erkenntnis weiterleben, dass ihr Lebensentwurf wohl weniger dauerhaft als episodenreich angelegt ist. Darauf, dass die Illusion von Annika am Ende platzt, mag es in Gertraud Klemms Roman weniger ankommen als auf die Art und Weise, wie gekonnt Klemm in ihrem zeitgemäßen Romansetting die unterschiedlichen Lebensentwürfe scheitern lässt. Klemms nicht immer dezenter Hang zum belehrenden Tonfall mindert das Lesevergnügen nur ein wenig.

Rezensionen

Buch

Tanja Paar:
Die Unversehrten

2018: Haymon, S. 160
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Federleicht erzählte Tragödie Tanja Paars „Die Unversehrten“ führen in den Abgrund des Zwischenmenschlichen hinab. „Die Unversehrten“ heißt Tanja Paars Debütroman, aber auf dem Umschlag ist über den Titel ein feiner

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Nadia Rungger:
Das Blatt mit den Lösungen. Erzählungen und Gedichte.

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Die Besonderheiten der alltäglichen Dinge Nadia Runggers „Das Blatt mit den Lösungen“ – ein überzeugendes Debut. In ihrem 2020 erschienen Buch Das Blatt mit den Lösungen entführt Nadia Rungger ihre

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Katharina Körting:
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In der PR-Maschinerie Im Roman „Rotes Dreieck“ gerät eine aufrechte Texterin in das Räderwerk eines Wahlkampfs. Eine uralte amerikanische Blues-Weisheit lautet: „You can’t judge a book by it’s cover“ (Willie

Buch

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2020: Droschl, S. 232
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Wie war das noch mal? Roman Markus hat mit „Dings“ einen wunderschönen Roman aus den 1990ern geschrieben. Natürlich ist es Zufall, dass der Autor Roman heißt. Und sein Roman (wie

Buch

Tonio Schachinger:
Nicht wie ihr

2020: Kremayr & Scheriau, S. 304
rezensiert von Heimo Mürzl

Der Käfigkicker Ein unwiderstehliches Solo auf der Schreibmaschine: Tonio Schachingers Debütroman „Nicht wie ihr“. Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt. Tonio Schachinger

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Werner Schandor:
Wie ich ein schlechter Buddhist wurde

2020: edition keiper, S. 200
rezensiert von Heimo Mürzl

Schotterbänke der Vernunft Werner Schandor hilft beim Nachdenken und plädiert für Menschlichkeit, Offenheit, Aufklärung und Humor.   Werner Schandor, der der Aufgeregtheit und Hektik, dem Tempo und Unsinn unserer Zeit

Buch

Bergsveinn Birgisson:
Die Landschaft hat immer Recht

2018: Residenz, S. 288
rezensiert von Hannes Luxbacher

Die Welt in Bergsveinn Birgisssons 2003 erschienenem Debutroman „Die Landschaft hat immer recht“ ist irgendwo zwischen banaler Realität, magischen Halluzinationen und bildreicher Vorstellungskraft angesiedelt. Es ist dem Residenz-Verlag hoch anzurechnen,

Buch

Christoph Dolgan:
Elf Nächte und ein Tag

2019: Droschl, S. 216
rezensiert von Werner Schandor

AUFGEZWUNGENE STARRE In Elf Nächte und ein Tag zeichnet Christoph Dolgan ein dicht gewobenes Psychogramm einer bedrückenden Freundschaft. Das heftigste Kapitel ist jenes, wo die Hauptfiguren Theodor und der Ich-Erzähler

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