Stieftussi und Waldhonigstimme
Gertraud Klemms Roman Erbsenzählen widmet sich den Seltsamkeiten moderner Paarbeziehungen aus weiblicher Sicht.
Die gebürtige Wienerin Gertraud Klemm sieht sich selbst in der Nachfolge von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. Mit schonungslosem Blick und scharfzüngig-bissigem Stil beobachtet, durchleuchtet und beschreibt sie die Herausforderungen und Probleme moderner Frauenleben, reflektiert über die Einbettung in ökonomische Zusammenhänge und Abhängigkeiten und analysiert die Versklavung durch Erwerbsleben und Patriarchat. Die Beschäftigung mit weiblichen Lebensentwürfen stand auch schon in ihren Romanen Herzmilch, Aberland und Muttergehäuse im Zentrum des Erzählgeschehens. Mittlerweile zählt Gertraud Klemm mit ihren unerbittlich-präzisen Büchern hierzulande zu den profiliertesten Chronistinnen moderner weiblicher Lebensläufe.
Klemms Bücher funktionieren in erster Linie als Romane mit einer explizit feministischen Botschaft und sollen auch als solche gelesen und verstanden werden. Seelisch Versehrte sind aber alle, – die Frauen, die Männer und die Kinder in den Büchern von Gertraud Klemm. Klemm konterkariert und unterminiert die Verzweiflung ihrer Romanfiguren aber stets mit den Mitteln der Komik und Ironie und umschifft so die Gefahr, gut gemeinte Agitation in Romanform zu betreiben. In ihrem neuen Roman Erbsenzählen sucht und findet Klemm einen neuen Ansatz für ihre feministische Prosa. Nicht Hausfrauen und Mütter verfangen sich im Netz von Mutterschaft, Geschlechterkampf, patriarchalischer Unterdrückung und ökonomischen Abhängigkeiten, sondern aufgeschlossene, selbstbewusste und feministisch sozialisierte junge Frauen wie die noch nicht dreißigjährige Annika verirren sich im Lebensentwurf-Dschungel zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Kunst und Lebenskunst und Lässig- und Fahrlässigkeit. Dem Roman ist ein Zitat einer der derzeit prominentesten (Vor-)Denkerinnen der westlichen Welt – Laurie Penny – vorangestellt: „There is a princess in all our heads: she must be destroyed.“ Karriere, Kinder, Ehe und Eigenheim sind für Annika nicht mehr als sinnbefreite Statussymbole und überflüssige Belanglosigkeiten. Wie will ich leben und lieben und wie kann ich das in einer von Regeln, Konventionen und tradierten Normen geprägten Welt tun? Was ist bedingungslose Freiheit und wie ist die zu erreichen? Und ist ein selbstbestimmtes und glückliches Leben überhaupt realisierbar? Diese Fragen stellt sich die Protagonistin Annika in Gertraud Klemms Roman Erbsenzählen.
Geplatzte Illusion
Annika, gelernte Physiotherapeutin mit abgebrochenem Kunstgeschichte-Studium, ist der Überzeugung, dass Beziehungen mehr und mehr zu „profanen Werkzeugen des Kapitalismus“ verkommen sind und das „Erbsenzählen“ – was habe ich schon erreicht und was kann ich den anderen präsentieren – zu sehr im Vordergrund steht. Die Soll- und Habenseite werden öfter verglichen, als dass emotionale Defizite und der Verlust von Gefühlen thematisiert werden. Annikas Kampf mit den Schranken und Grenzen der neoliberalen Leistungs- und Wertegesellschaft wird nicht leichter, als sie sich in einen Mann verliebt, der doppelt so alt ist wie sie. Alfred, der Kulturradioredakteur und Moderator mit der Waldhonigstimme, ist achtundfünfzig Jahre alt und ihr gemeinsames Leben lässt sich zwar gut an und scheint ein gelungener Gegenentwurf zur konventionellen Paarbeziehung zu sein. Erste Risse in der glanzvollen Alternativ-Fassade tun sich auf, als Alfreds Sohn Elias – der Annika hinter ihrem Rücken respektlos als „Stieftussi“ bezeichnet – die junge Frau in die Rolle der Ersatzmutter drängt und aus der Zweierbeziehung eine moderne Patchwork-Familie wird. Aus der Zweisamkeit ohne Verbindlichkeiten, aber mit viel Gefühl und großer Zuneigung, guter Sexualität, gegenseitigem Respekt und viel Lebensfreude und guter Laune wird Schritt für Schritt Alltag und Routine und der alternative Lebensentwurf verkehrt sich in sein Gegenteil. Umso mehr, als Alfred einen „leichten Vorderwandinfarkt“ erleidet und Annika mit Irritation und Erstaunen zur Kenntnis nehmen muss, dass Alfreds geschiedene Frau Valerie in dieser Ausnahmesituation als „Vertraute“ wieder einen wichtigen Platz in Alfreds Leben einnimmt.
Gertraud Klemm treibt das Spiel mit enttäuschten Erwartungshaltungen und den Seltsamkeiten moderner (Paar-)Beziehungen auf die Spitze. Annika muss mit der Erkenntnis weiterleben, dass ihr Lebensentwurf wohl weniger dauerhaft als episodenreich angelegt ist. Darauf, dass die Illusion von Annika am Ende platzt, mag es in Gertraud Klemms Roman weniger ankommen als auf die Art und Weise, wie gekonnt Klemm in ihrem zeitgemäßen Romansetting die unterschiedlichen Lebensentwürfe scheitern lässt. Klemms nicht immer dezenter Hang zum belehrenden Tonfall mindert das Lesevergnügen nur ein wenig.