Mitten in der Gegenwart
Rosemarie Poiarkovs Romandebüt Aussichten sind überschätzt kommt als reizvolle Melange aus Familiengeschichte, Gesellschaftsstudie und Vergangenheitsbewältigung.
„Die Welt ist blau wie eine Orange“, lässt uns Rosemarie Poiarkov wissen, bevor wir in die Handlung ihres Romans eintauchen. Eine Erkenntnis, über die wohl jeder irgendwann in seinem Leben zu stolpern pflegt. Auch Luise, Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrerin, der wir zum ersten Mal kurz vor einem Flug nach Mexiko begegnen, wo sie eigentlich nicht wirklich hinwill, ihrer Flugangst sei Dank. Aber sie fliegt schließlich doch, und das ist gut so, denn ohne Mexiko würde es diese Geschichte so nicht geben. Auf einem Markt in besagtem Land entdeckt Luise nämlich eine braune Tonwalze, die die Autorin zum roten Faden ihrer Erzählung werden lässt, wenngleich manchmal nicht Luise selbst berichtet, sondern ein personaler Erzähler, der das Innenleben der Figuren umfassend darlegt. Das Besondere an der Walze: Sie stammt aus dem Wien des Jahres 1903, und auf ihr spricht das Luberl, wohnhaft in der Praterstraße 64. Was es für die Nachwelt festzuhalten versucht, ist freilich beinahe unverständlich, und Luise macht es sich zur Aufgabe, das herauszufinden.
Doch für jeden sagen die Worte, sagt das Lachen auf der Walze etwas anderes.
Lebte das Luberl tatsächlich in einer Welt aus Schwarz und Weiß? Wurde es während der Aufnahme gekitzelt? Und wie kam es vor über hundert Jahren überhaupt dazu, in einen Trichter zu sprechen? Im Laufe der Erzählung erfahren wir nach und nach nicht nur mehr über Luise und die Probleme, denen sie sich aufgrund einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in ihrem „Frauenberuf“ gegenübersieht, sondern auch über die Menschen, die hören, zuhören, nachhören, die Walze zu einem Teil ihres Lebens werden lassen: Luises Lebensgefährten Emil, von Beruf Tonarchivar, der durch seine Ohren lebt und sich winters auf der Alten Donau eine Geräuschverkühlung holt. Luises beste Freundin Julia, die ihrer entfremdeten Mutter aufgrund deren Alkoholsucht wieder näherkommt, und ihren fantasievollen kleinen Sohn Felix. Den schüchternen Milan, der aus Novi Sad eine verzehrende Sehnsucht nach der schönen Zorica mit nach Hause bringt, mit der er das wunderbarste Gespräch seines Lebens geführt hat, obwohl sie nicht einmal seine Sprache spricht. Und Luises Vater Josef, der die Stadt durchstreift, allein, mit dem Körper im Jetzt und dem Kopf in einer anderen Zeit. Die Stadt: Das ist das Wien von heute, der Ort, an dem die Protagonisten atmen, leben, träumen, lieben. Und den Momenten des Alltags lauschen. Es passiert nicht viel in diesem Roman. Es ist das scheinbar Kleine, Unwichtige, das zur Hauptsache wird und im Gedächtnis bleibt: was mit dem mexikanischen Hustensaft im Handgepäck auf Luises Heimreise nach Wien geschieht; wie sich das Wasser unter der Eisschicht auf der winterlichen Alten Donau anhört; wie durch das Verlangen nach einem Menschen plötzlich alles, was davor war, an Wert verliert. Das Alltägliche und das Zuhören, diese beiden Dinge treten hier nach vorn, zwei Dinge, die sonst stets hinter ihren mächtigeren Pendants zurückstehen müssen: dem Besonderen und dem Sehen. Die Sequenzen werden locker aneinandergereiht und sympathisch selbstironisch erzählt, und Leopoldstädter werden sich besonders freuen, wenn sie beim Lesen gemeinsam mit
dem alten Josef Grasl durch ihren Bezirk streifen und altbekannte Ecken und Plätze besuchen dürfen. Aussichten sind überschätzt ist das Romandebüt der Wienerin Rosemarie Poiarkov, die Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaft studierte und ebenso wie ihre Protagonistin Luise als Deutsch-als-Fremdsprache-Trainerin arbeitet. Es ist eine kluge Erzählung, feinsinnig, oft beinahe poetisch, rundum rund, zufrieden stimmend und doch zum Nachdenken anregend. „Töne sind wie die Zeit: immer gerade gegangen, immer gerade im Kommen“, heißt es an einer Stelle. Schöner lässt sich die Grundstimmung des Romans wohl nicht zusammenfassen.